Noch hast du nicht genug erlitten, Drum schiest der dritte mit herein. Morbona bricht durch alle Riegel, Sie steigt aus einer Todten-Grufft, Und rühret die vergiffte Lufft Durch ihre schwartz-gemahlten Flügel. Du wohlgeplagtes Land und Stadt! Was kan wohl deinen Aengsten gleichen? Wer zehlet die gestreckten Leichen, So Mortens Wuth geschlachtet hat? Du kanst die frechsten Seelen lehren, Was das bedrängte Leben sey: Und bringst durch tausend Zeugen bey, Wie sehr die Lust sich kan verkehren.
Nun halte man dieses mit jenem vorigen gegen einander, so wird es sich sonnen-klar zeigen, worinn der Unterscheid der Gedancken bestehe. Dem Poeten sind tausend Dinge eingefallen, daran der Geschicht-Schreiber nicht gedacht; Bey dem Kriege nehmlich, der Gott des Krieges, und dessen Blut-Durst, imgleichen die Felder, so von einer Armee durchgraben und verderbet worden. Weil die Hungers- Noth aus dem Kriege entstanden, fällt es ihm ein, daß die Kinder von ihren Eltern entstehen, und braucht er also dort das Wort gebohren, so ein gantzes Gleichniß anzeigt. Wenn er die unfruchtbaren Aecker bedenckt, sieht er an statt des Regens das Blut in den Furchen laufen. Da vorher von Feinden die Rede gewesen, sieht er, daß auch der Hunger ein Feind des Landes heissen könne, weil er den Krieges- Leuten darinn ähnlich ist, daß er Schaden stifftet. Er zehlt also schon zwey Feinde, und da ihm die Pest noch vor Augen schwebt, davon er reden soll, macht er sie zum drit- ten Feinde, weil er eben die Aehnlichkeit daran bemerckt. Die Seuche bringt ihn auf die Morbona; diese läßt er ih- rer Natur gemäß aus der Grufft steigen, und, weil sie sehr fürchterlich ist, mit schwartzen Flügeln durch die vergifftete Lufft fahren. Hierauf sieht er ihre traurige Wirckungen; er entsetzt sich, und bricht in voller Entzückung in eine heffti- ge Anrede und etliche Fragen aus, beschließt aber endlich
mit
Von der poetiſchen Schreibart.
Noch haſt du nicht genug erlitten, Drum ſchieſt der dritte mit herein. Morbona bricht durch alle Riegel, Sie ſteigt aus einer Todten-Grufft, Und ruͤhret die vergiffte Lufft Durch ihre ſchwartz-gemahlten Fluͤgel. Du wohlgeplagtes Land und Stadt! Was kan wohl deinen Aengſten gleichen? Wer zehlet die geſtreckten Leichen, So Mortens Wuth geſchlachtet hat? Du kanſt die frechſten Seelen lehren, Was das bedraͤngte Leben ſey: Und bringſt durch tauſend Zeugen bey, Wie ſehr die Luſt ſich kan verkehren.
Nun halte man dieſes mit jenem vorigen gegen einander, ſo wird es ſich ſonnen-klar zeigen, worinn der Unterſcheid der Gedancken beſtehe. Dem Poeten ſind tauſend Dinge eingefallen, daran der Geſchicht-Schreiber nicht gedacht; Bey dem Kriege nehmlich, der Gott des Krieges, und deſſen Blut-Durſt, imgleichen die Felder, ſo von einer Armee durchgraben und verderbet worden. Weil die Hungers- Noth aus dem Kriege entſtanden, faͤllt es ihm ein, daß die Kinder von ihren Eltern entſtehen, und braucht er alſo dort das Wort gebohren, ſo ein gantzes Gleichniß anzeigt. Wenn er die unfruchtbaren Aecker bedenckt, ſieht er an ſtatt des Regens das Blut in den Furchen laufen. Da vorher von Feinden die Rede geweſen, ſieht er, daß auch der Hunger ein Feind des Landes heiſſen koͤnne, weil er den Krieges- Leuten darinn aͤhnlich iſt, daß er Schaden ſtifftet. Er zehlt alſo ſchon zwey Feinde, und da ihm die Peſt noch vor Augen ſchwebt, davon er reden ſoll, macht er ſie zum drit- ten Feinde, weil er eben die Aehnlichkeit daran bemerckt. Die Seuche bringt ihn auf die Morbona; dieſe laͤßt er ih- rer Natur gemaͤß aus der Grufft ſteigen, und, weil ſie ſehr fuͤrchterlich iſt, mit ſchwartzen Fluͤgeln durch die vergifftete Lufft fahren. Hierauf ſieht er ihre traurige Wirckungen; er entſetzt ſich, und bricht in voller Entzuͤckung in eine heffti- ge Anrede und etliche Fragen aus, beſchließt aber endlich
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Von der poetiſchen Schreibart.
Noch haſt du nicht genug erlitten,
Drum ſchieſt der dritte mit herein.
Morbona bricht durch alle Riegel,
Sie ſteigt aus einer Todten-Grufft,
Und ruͤhret die vergiffte Lufft
Durch ihre ſchwartz-gemahlten Fluͤgel.
Du wohlgeplagtes Land und Stadt!
Was kan wohl deinen Aengſten gleichen?
Wer zehlet die geſtreckten Leichen,
So Mortens Wuth geſchlachtet hat?
Du kanſt die frechſten Seelen lehren,
Was das bedraͤngte Leben ſey:
Und bringſt durch tauſend Zeugen bey,
Wie ſehr die Luſt ſich kan verkehren.
Nun halte man dieſes mit jenem vorigen gegen einander,
ſo wird es ſich ſonnen-klar zeigen, worinn der Unterſcheid
der Gedancken beſtehe. Dem Poeten ſind tauſend Dinge
eingefallen, daran der Geſchicht-Schreiber nicht gedacht;
Bey dem Kriege nehmlich, der Gott des Krieges, und deſſen
Blut-Durſt, imgleichen die Felder, ſo von einer Armee
durchgraben und verderbet worden. Weil die Hungers-
Noth aus dem Kriege entſtanden, faͤllt es ihm ein, daß die
Kinder von ihren Eltern entſtehen, und braucht er alſo dort das
Wort gebohren, ſo ein gantzes Gleichniß anzeigt. Wenn
er die unfruchtbaren Aecker bedenckt, ſieht er an ſtatt des
Regens das Blut in den Furchen laufen. Da vorher von
Feinden die Rede geweſen, ſieht er, daß auch der Hunger
ein Feind des Landes heiſſen koͤnne, weil er den Krieges-
Leuten darinn aͤhnlich iſt, daß er Schaden ſtifftet. Er
zehlt alſo ſchon zwey Feinde, und da ihm die Peſt noch vor
Augen ſchwebt, davon er reden ſoll, macht er ſie zum drit-
ten Feinde, weil er eben die Aehnlichkeit daran bemerckt.
Die Seuche bringt ihn auf die Morbona; dieſe laͤßt er ih-
rer Natur gemaͤß aus der Grufft ſteigen, und, weil ſie ſehr
fuͤrchterlich iſt, mit ſchwartzen Fluͤgeln durch die vergifftete
Lufft fahren. Hierauf ſieht er ihre traurige Wirckungen;
er entſetzt ſich, und bricht in voller Entzuͤckung in eine heffti-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/315>, abgerufen am 24.11.2024.
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