Der guter Wissenschafft mit Fleiß hat nachgedacht, Mehr Oel als Wein verzehrt, bemüht zu Mitternacht; Der endlich aus sich selbst was vorzubringen waget, Was niemand noch gedacht, kein Mund zuvor gesaget; Der zwar dem besten folgt, doch ausser Dieberey, Daß er dem höchsten gleich, doch selber Meister sey; Dazu gemeines Zeug und kahle Fratzen meidet, Und die Erfindung auch mit schönen Worten kleidet; Der keinen lahmen Vers läßt unterm Haufen gehn, Viel lieber zwanzig würgt, die nicht für gut bestehn. Nun wer sich solch ein Mann mit Recht will lassen nennen, Der muß kein Narr nicht seyn. etc.
Wie nun an dieser Wahrheit zum wenigsten niemand zwei- feln wird, der die Schrifften der besten Poeten, sonder- lich der alten mit Verstande gelesen hat; also müssen wir auch zum andern sehen, was denn nunmehro die poetische Art zu dencken von der prosaischen unterscheide? Die Ver- nunft kan und soll es nach dem vorigen nicht seyn: Was wird es denn wohl anders als der Witz oder Geist seyn können? Und in der That macht diese Gemüths-Krafft, nachdem sie bey einem stärcker als bey dem andern ist, einen grossen Unterscheid in den Gedancken. Zwar ohne dieselbe ist kein Mensch zu finden. Ein jeder hat ein gewisses Maaß davon bekommen, ohne welches er sich so gar in Vernunft- Schlüssen nicht würde behelfen können, wie in der Logic erwiesen wird. Allein bey einigen ist sie sehr lebhafft und starck. Gewisse Geister haben viel Scharfsinnigkeit, wo- durch sie gleichsam in einem Augenblicke hundert Eigen- schaften von einer Sache, so ihnen vorkommt, wahrnehmen. Was sie wahrnehmen, drücket sich wegen ihrer begierigen Aufmercksamkeit tief in ihr Gedächtniß, und so bald zu an- derer Zeit etwas vorfällt, so nur die geringste Aehnlichkeit damit hat; so bringt ihnen die Einbildungs-Krafft dasselbe wiederum hervor. So ist ihnen denn allezeit eine Menge von Gedancken zugleich gegenwärtig; das gegenwärtige bringt sie aufs vergangene, das wirckliche aufs mögliche, das empfundene auf alles was ihm ähnlich ist, oder werden kan. Daher entstehen nun Gleichnisse, verblümte Aus-
drücke,
Von der poetiſchen Schreibart.
Der guter Wiſſenſchafft mit Fleiß hat nachgedacht, Mehr Oel als Wein verzehrt, bemuͤht zu Mitternacht; Der endlich aus ſich ſelbſt was vorzubringen waget, Was niemand noch gedacht, kein Mund zuvor geſaget; Der zwar dem beſten folgt, doch auſſer Dieberey, Daß er dem hoͤchſten gleich, doch ſelber Meiſter ſey; Dazu gemeines Zeug und kahle Fratzen meidet, Und die Erfindung auch mit ſchoͤnen Worten kleidet; Der keinen lahmen Vers laͤßt unterm Haufen gehn, Viel lieber zwanzig wuͤrgt, die nicht fuͤr gut beſtehn. Nun wer ſich ſolch ein Mann mit Recht will laſſen nennen, Der muß kein Narr nicht ſeyn. ꝛc.
Wie nun an dieſer Wahrheit zum wenigſten niemand zwei- feln wird, der die Schrifften der beſten Poeten, ſonder- lich der alten mit Verſtande geleſen hat; alſo muͤſſen wir auch zum andern ſehen, was denn nunmehro die poetiſche Art zu dencken von der proſaiſchen unterſcheide? Die Ver- nunft kan und ſoll es nach dem vorigen nicht ſeyn: Was wird es denn wohl anders als der Witz oder Geiſt ſeyn koͤnnen? Und in der That macht dieſe Gemuͤths-Krafft, nachdem ſie bey einem ſtaͤrcker als bey dem andern iſt, einen groſſen Unterſcheid in den Gedancken. Zwar ohne dieſelbe iſt kein Menſch zu finden. Ein jeder hat ein gewiſſes Maaß davon bekommen, ohne welches er ſich ſo gar in Vernunft- Schluͤſſen nicht wuͤrde behelfen koͤnnen, wie in der Logic erwieſen wird. Allein bey einigen iſt ſie ſehr lebhafft und ſtarck. Gewiſſe Geiſter haben viel Scharfſinnigkeit, wo- durch ſie gleichſam in einem Augenblicke hundert Eigen- ſchaften von einer Sache, ſo ihnen vorkommt, wahrnehmen. Was ſie wahrnehmen, druͤcket ſich wegen ihrer begierigen Aufmerckſamkeit tief in ihr Gedaͤchtniß, und ſo bald zu an- derer Zeit etwas vorfaͤllt, ſo nur die geringſte Aehnlichkeit damit hat; ſo bringt ihnen die Einbildungs-Krafft daſſelbe wiederum hervor. So iſt ihnen denn allezeit eine Menge von Gedancken zugleich gegenwaͤrtig; das gegenwaͤrtige bringt ſie aufs vergangene, das wirckliche aufs moͤgliche, das empfundene auf alles was ihm aͤhnlich iſt, oder werden kan. Daher entſtehen nun Gleichniſſe, verbluͤmte Aus-
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[285/0313]
Von der poetiſchen Schreibart.
Der guter Wiſſenſchafft mit Fleiß hat nachgedacht,
Mehr Oel als Wein verzehrt, bemuͤht zu Mitternacht;
Der endlich aus ſich ſelbſt was vorzubringen waget,
Was niemand noch gedacht, kein Mund zuvor geſaget;
Der zwar dem beſten folgt, doch auſſer Dieberey,
Daß er dem hoͤchſten gleich, doch ſelber Meiſter ſey;
Dazu gemeines Zeug und kahle Fratzen meidet,
Und die Erfindung auch mit ſchoͤnen Worten kleidet;
Der keinen lahmen Vers laͤßt unterm Haufen gehn,
Viel lieber zwanzig wuͤrgt, die nicht fuͤr gut beſtehn.
Nun wer ſich ſolch ein Mann mit Recht will laſſen nennen,
Der muß kein Narr nicht ſeyn. ꝛc.
Wie nun an dieſer Wahrheit zum wenigſten niemand zwei-
feln wird, der die Schrifften der beſten Poeten, ſonder-
lich der alten mit Verſtande geleſen hat; alſo muͤſſen wir
auch zum andern ſehen, was denn nunmehro die poetiſche
Art zu dencken von der proſaiſchen unterſcheide? Die Ver-
nunft kan und ſoll es nach dem vorigen nicht ſeyn: Was
wird es denn wohl anders als der Witz oder Geiſt ſeyn
koͤnnen? Und in der That macht dieſe Gemuͤths-Krafft,
nachdem ſie bey einem ſtaͤrcker als bey dem andern iſt, einen
groſſen Unterſcheid in den Gedancken. Zwar ohne dieſelbe
iſt kein Menſch zu finden. Ein jeder hat ein gewiſſes Maaß
davon bekommen, ohne welches er ſich ſo gar in Vernunft-
Schluͤſſen nicht wuͤrde behelfen koͤnnen, wie in der Logic
erwieſen wird. Allein bey einigen iſt ſie ſehr lebhafft und
ſtarck. Gewiſſe Geiſter haben viel Scharfſinnigkeit, wo-
durch ſie gleichſam in einem Augenblicke hundert Eigen-
ſchaften von einer Sache, ſo ihnen vorkommt, wahrnehmen.
Was ſie wahrnehmen, druͤcket ſich wegen ihrer begierigen
Aufmerckſamkeit tief in ihr Gedaͤchtniß, und ſo bald zu an-
derer Zeit etwas vorfaͤllt, ſo nur die geringſte Aehnlichkeit
damit hat; ſo bringt ihnen die Einbildungs-Krafft daſſelbe
wiederum hervor. So iſt ihnen denn allezeit eine Menge
von Gedancken zugleich gegenwaͤrtig; das gegenwaͤrtige
bringt ſie aufs vergangene, das wirckliche aufs moͤgliche,
das empfundene auf alles was ihm aͤhnlich iſt, oder werden
kan. Daher entſtehen nun Gleichniſſe, verbluͤmte Aus-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/313>, abgerufen am 24.11.2024.
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