heit nun müssen auch alle seine Gedichte schmecken. Jede Zeile muß so zu reden zeugen, daß sie einen vernünftigen Vater habe. Kein Wort, ja wenn es auch der Reim wä- re, muß einen übeln Verdacht von dem Verstande dessen erwecken, der es geschrieben hat. Das will Boileau, wenn er schreibt:
Quelque sujet qu'on traite, ou plaisant, ou sublime, Que toujours le Bonsens s' accorde avec la rime. L'un l'autre vainement ils se semblent haeir, La Rime est une esclave & ne doit qu'obeir. - - - - Aimez donc la Raison! Que toujours vos ecrits Empruntent d' elle seule & leur lustre & leur prix.
Jch will noch ein Deutsches Zeugniß aus unserm Rachelius anführen, der ausdrücklich in diesem Puncte die Vertheidi- gung der Poeten in einer Satire über sich genommen. Er klaget erstlich dem Tscherning seine Noth, daß man die Poesie, die doch unter funfzigen kaum fünfen glücket, ihm zum Vorwurfe gemacht habe. Hierauf setzt er hinzu:
Daß aber man so gar das gute darf beschmeissen, Daß ein Poet ein Narr, ein Narr Poet muß heißen, Das thut der Unverstand. Weil mancher Büffel zwar Hat einen grossen Kopf, Gehirne nicht ein Haar.
Er giebt darauf zwar zu, daß die Poeten allezeit aufge- räumte Köpfe gewesen, und zuweilen einen lustigen Einfall nach dem andern vorgebracht; doch unterscheidet er sie von unflätigen Possenreißern, die auch nur von dem Pöbel, der gar nicht zu urtheilen weiß, unter die Poeten gemischet wor- den. Alsdann setzt er hinzu, was er von einem Dichter fordert.
Wer ein Poet will seyn, der sey ein solcher Mann, Der mehr als Worte nur und Reime machen kan; Der aus den Römern weiß, aus Griechen hat gesehen, Was für gelahrt, beredt und sinnreich kan bestehen; Der nicht die Zunge nur, nach seinem Willen rührt, Der Vorrath im Gehirn, und Saltz im Munde führt; Der durch den bleichen Fleiß aus Schrifften hat erfahren, Was mercklichs ist geschehn vor vielmahl hundert Jahren;
Der
Das XI. Capitel
heit nun muͤſſen auch alle ſeine Gedichte ſchmecken. Jede Zeile muß ſo zu reden zeugen, daß ſie einen vernuͤnftigen Vater habe. Kein Wort, ja wenn es auch der Reim waͤ- re, muß einen uͤbeln Verdacht von dem Verſtande deſſen erwecken, der es geſchrieben hat. Das will Boileau, wenn er ſchreibt:
Quelque ſujet qu’on traite, ou plaiſant, ou ſublime, Que toujours le Bonſens ſ’ accorde avec la rime. L’un l’autre vainement ils ſe ſemblent haîr, La Rime eſt une eſclave & ne doit qu’obeir. ‒ ‒ ‒ ‒ Aimez donc la Raiſon! Que toujours vos ecrits Empruntent d’ elle ſeule & leur luſtre & leur prix.
Jch will noch ein Deutſches Zeugniß aus unſerm Rachelius anfuͤhren, der ausdruͤcklich in dieſem Puncte die Vertheidi- gung der Poeten in einer Satire uͤber ſich genommen. Er klaget erſtlich dem Tſcherning ſeine Noth, daß man die Poeſie, die doch unter funfzigen kaum fuͤnfen gluͤcket, ihm zum Vorwurfe gemacht habe. Hierauf ſetzt er hinzu:
Daß aber man ſo gar das gute darf beſchmeiſſen, Daß ein Poet ein Narr, ein Narr Poet muß heißen, Das thut der Unverſtand. Weil mancher Buͤffel zwar Hat einen groſſen Kopf, Gehirne nicht ein Haar.
Er giebt darauf zwar zu, daß die Poeten allezeit aufge- raͤumte Koͤpfe geweſen, und zuweilen einen luſtigen Einfall nach dem andern vorgebracht; doch unterſcheidet er ſie von unflaͤtigen Poſſenreißern, die auch nur von dem Poͤbel, der gar nicht zu urtheilen weiß, unter die Poeten gemiſchet wor- den. Alsdann ſetzt er hinzu, was er von einem Dichter fordert.
Wer ein Poet will ſeyn, der ſey ein ſolcher Mann, Der mehr als Worte nur und Reime machen kan; Der aus den Roͤmern weiß, aus Griechen hat geſehen, Was fuͤr gelahrt, beredt und ſinnreich kan beſtehen; Der nicht die Zunge nur, nach ſeinem Willen ruͤhrt, Der Vorrath im Gehirn, und Saltz im Munde fuͤhrt; Der durch den bleichen Fleiß aus Schrifften hat erfahren, Was mercklichs iſt geſchehn vor vielmahl hundert Jahren;
Der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0312"n="284"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Das <hirendition="#aq">XI.</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
heit nun muͤſſen auch alle ſeine Gedichte ſchmecken. Jede<lb/>
Zeile muß ſo zu reden zeugen, daß ſie einen vernuͤnftigen<lb/>
Vater habe. Kein Wort, ja wenn es auch der Reim waͤ-<lb/>
re, muß einen uͤbeln Verdacht von dem Verſtande deſſen<lb/>
erwecken, der es geſchrieben hat. Das will Boileau, wenn<lb/>
er ſchreibt:</p><lb/><cit><quote><hirendition="#aq">Quelque ſujet qu’on traite, ou plaiſant, ou ſublime,<lb/>
Que toujours le Bonſens ſ’ accorde avec la rime.<lb/>
L’un l’autre vainement ils ſe ſemblent haîr,<lb/>
La Rime eſt une eſclave & ne doit qu’obeir.<lb/>‒‒‒‒<lb/>
Aimez donc la Raiſon! Que toujours vos ecrits<lb/>
Empruntent d’ elle ſeule & leur luſtre & leur prix.</hi></quote></cit><lb/><p>Jch will noch ein Deutſches Zeugniß aus unſerm Rachelius<lb/>
anfuͤhren, der ausdruͤcklich in dieſem Puncte die Vertheidi-<lb/>
gung der Poeten in einer Satire uͤber ſich genommen. Er<lb/>
klaget erſtlich dem Tſcherning ſeine Noth, daß man die<lb/>
Poeſie, die doch unter funfzigen kaum fuͤnfen gluͤcket, ihm<lb/>
zum Vorwurfe gemacht habe. Hierauf ſetzt er hinzu:</p><lb/><cit><quote>Daß aber man ſo gar das gute darf beſchmeiſſen,<lb/>
Daß ein Poet ein Narr, ein Narr Poet muß heißen,<lb/>
Das thut der Unverſtand. Weil mancher Buͤffel zwar<lb/>
Hat einen groſſen Kopf, Gehirne nicht ein Haar.</quote></cit><lb/><p>Er giebt darauf zwar zu, daß die Poeten allezeit aufge-<lb/>
raͤumte Koͤpfe geweſen, und zuweilen einen luſtigen Einfall<lb/>
nach dem andern vorgebracht; doch unterſcheidet er ſie von<lb/>
unflaͤtigen Poſſenreißern, die auch nur von dem Poͤbel, der<lb/>
gar nicht zu urtheilen weiß, unter die Poeten gemiſchet wor-<lb/>
den. Alsdann ſetzt er hinzu, was er von einem Dichter<lb/>
fordert.</p><lb/><cit><quote>Wer ein Poet will ſeyn, der ſey ein ſolcher Mann,<lb/>
Der mehr als Worte nur und Reime machen kan;<lb/>
Der aus den Roͤmern weiß, aus Griechen hat geſehen,<lb/>
Was fuͤr gelahrt, beredt und ſinnreich kan beſtehen;<lb/>
Der nicht die Zunge nur, nach ſeinem Willen ruͤhrt,<lb/><hirendition="#fr">Der Vorrath im Gehirn, und Saltz im Munde fuͤhrt;</hi><lb/>
Der durch den bleichen Fleiß aus Schrifften hat erfahren,<lb/>
Was mercklichs iſt geſchehn vor vielmahl hundert Jahren;<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Der</fw><lb/></quote></cit></div></div></body></text></TEI>
[284/0312]
Das XI. Capitel
heit nun muͤſſen auch alle ſeine Gedichte ſchmecken. Jede
Zeile muß ſo zu reden zeugen, daß ſie einen vernuͤnftigen
Vater habe. Kein Wort, ja wenn es auch der Reim waͤ-
re, muß einen uͤbeln Verdacht von dem Verſtande deſſen
erwecken, der es geſchrieben hat. Das will Boileau, wenn
er ſchreibt:
Quelque ſujet qu’on traite, ou plaiſant, ou ſublime,
Que toujours le Bonſens ſ’ accorde avec la rime.
L’un l’autre vainement ils ſe ſemblent haîr,
La Rime eſt une eſclave & ne doit qu’obeir.
‒ ‒ ‒ ‒
Aimez donc la Raiſon! Que toujours vos ecrits
Empruntent d’ elle ſeule & leur luſtre & leur prix.
Jch will noch ein Deutſches Zeugniß aus unſerm Rachelius
anfuͤhren, der ausdruͤcklich in dieſem Puncte die Vertheidi-
gung der Poeten in einer Satire uͤber ſich genommen. Er
klaget erſtlich dem Tſcherning ſeine Noth, daß man die
Poeſie, die doch unter funfzigen kaum fuͤnfen gluͤcket, ihm
zum Vorwurfe gemacht habe. Hierauf ſetzt er hinzu:
Daß aber man ſo gar das gute darf beſchmeiſſen,
Daß ein Poet ein Narr, ein Narr Poet muß heißen,
Das thut der Unverſtand. Weil mancher Buͤffel zwar
Hat einen groſſen Kopf, Gehirne nicht ein Haar.
Er giebt darauf zwar zu, daß die Poeten allezeit aufge-
raͤumte Koͤpfe geweſen, und zuweilen einen luſtigen Einfall
nach dem andern vorgebracht; doch unterſcheidet er ſie von
unflaͤtigen Poſſenreißern, die auch nur von dem Poͤbel, der
gar nicht zu urtheilen weiß, unter die Poeten gemiſchet wor-
den. Alsdann ſetzt er hinzu, was er von einem Dichter
fordert.
Wer ein Poet will ſeyn, der ſey ein ſolcher Mann,
Der mehr als Worte nur und Reime machen kan;
Der aus den Roͤmern weiß, aus Griechen hat geſehen,
Was fuͤr gelahrt, beredt und ſinnreich kan beſtehen;
Der nicht die Zunge nur, nach ſeinem Willen ruͤhrt,
Der Vorrath im Gehirn, und Saltz im Munde fuͤhrt;
Der durch den bleichen Fleiß aus Schrifften hat erfahren,
Was mercklichs iſt geſchehn vor vielmahl hundert Jahren;
Der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/312>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.