Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Das X. Capitel
Jch weiß, daß Jupiter sich drüber hat entrüst,
Daß die verdorbne Welt so voller Falschheit ist.
Ein Bettler, der durch Sturm an meinen Strand gekommen,
Wird von mir Thörichten zum König aufgenommen?
Der Schiff und Gut verlohr und nur durch meine Hand,
Nebst seinem nackten Volck, des Lebens Rettung fand?
Jch berste fast vor Zorn! Der Schmertz bringt mich zum rasen.
Nun hat Apollo ihm was neues eingeblasen,
Ein Traum aus Lycien was anders prophezeyht,
Ja selber Jupiter ihm drohend angedeut,
Er solle seinen Fuß in andre Länder tragen.
Ja recht! Gott wird wohl viel nach deinem Schwärmen fragen!
Der Himmel, welchen nichts in seiner Ruhe stört,
Hat seine Sorgen itzt auf deine Fahrt gekehrt.
Doch lauf! ich halt dich nicht; Jch will nicht wiedersprechen.
Nur fort! und säume nicht die Wellen durchzustechen.
Such dein Jtalien, das dir so wohl gefällt,
Und wo die Hoffnung dir ein neues Reich bestellt.
Jch weiß, der Himmel wird gerecht und heilig bleiben,
Und dein verschlagnes Schiff an Klipp und Syrten treiben,
Da wird die wilde Fluth ein Rächer meiner Pein,
Da wird dein letztes Wort: Ach Dido! Dido! seyn.
Ja wird der kalte Tod den warmen Geist verjagen,
Soll mein Gespenste dich doch allenhalben plagen.
Du sollst, du kanst, du wirst der Strafe nicht entgehn,
Und ich will deine Quaal auch in der Grufft verstehn!

Wer aus einer so hertz-rührenden Rede den Nachdruck der
Figuren nicht begreifen kan, der muß wenig Empfindlich-
keit und Nachsinnen besitzen. Wer aber überführt seyn
will, daß dieses rührende Wesen bloß von den Figuren
herrühre, der darf nur eine andre Ubersetzung von der la-
teinischen Stelle machen, darinn alles schlechtweg gesagt
wird; Sogleich wird alles Feuer, alle Hefftigkeit und alle
Lebhafftigkeit daraus verschwinden; und man wird es kaum
glauben können, daß es dieselbe Rede sey.

Lami fängt die Figuren mit dem Ausruffe an, weil diese die
natürlichste ist, und in vielen Affecten zuerst hervorbricht.
Denn es giebt einen Ausruff, in der Freude, Traurigkeit,
Rachgier u. s. w. Jmgleichen im Schrecken, Zagen, Ver-
zweifeln, Trotzen u. d. gl. Es giebt zwar gewisse Formeln,
so eigentlich dazu bestimmt sind, als Ach! O! Weh! Wohl-

an!
Das X. Capitel
Jch weiß, daß Jupiter ſich druͤber hat entruͤſt,
Daß die verdorbne Welt ſo voller Falſchheit iſt.
Ein Bettler, der durch Sturm an meinen Strand gekommen,
Wird von mir Thoͤrichten zum Koͤnig aufgenommen?
Der Schiff und Gut verlohr und nur durch meine Hand,
Nebſt ſeinem nackten Volck, des Lebens Rettung fand?
Jch berſte faſt vor Zorn! Der Schmertz bringt mich zum raſen.
Nun hat Apollo ihm was neues eingeblaſen,
Ein Traum aus Lycien was anders prophezeyht,
Ja ſelber Jupiter ihm drohend angedeut,
Er ſolle ſeinen Fuß in andre Laͤnder tragen.
Ja recht! Gott wird wohl viel nach deinem Schwaͤrmen fragen!
Der Himmel, welchen nichts in ſeiner Ruhe ſtoͤrt,
Hat ſeine Sorgen itzt auf deine Fahrt gekehrt.
Doch lauf! ich halt dich nicht; Jch will nicht wiederſprechen.
Nur fort! und ſaͤume nicht die Wellen durchzuſtechen.
Such dein Jtalien, das dir ſo wohl gefaͤllt,
Und wo die Hoffnung dir ein neues Reich beſtellt.
Jch weiß, der Himmel wird gerecht und heilig bleiben,
Und dein verſchlagnes Schiff an Klipp und Syrten treiben,
Da wird die wilde Fluth ein Raͤcher meiner Pein,
Da wird dein letztes Wort: Ach Dido! Dido! ſeyn.
Ja wird der kalte Tod den warmen Geiſt verjagen,
Soll mein Geſpenſte dich doch allenhalben plagen.
Du ſollſt, du kanſt, du wirſt der Strafe nicht entgehn,
Und ich will deine Quaal auch in der Grufft verſtehn!

Wer aus einer ſo hertz-ruͤhrenden Rede den Nachdruck der
Figuren nicht begreifen kan, der muß wenig Empfindlich-
keit und Nachſinnen beſitzen. Wer aber uͤberfuͤhrt ſeyn
will, daß dieſes ruͤhrende Weſen bloß von den Figuren
herruͤhre, der darf nur eine andre Uberſetzung von der la-
teiniſchen Stelle machen, darinn alles ſchlechtweg geſagt
wird; Sogleich wird alles Feuer, alle Hefftigkeit und alle
Lebhafftigkeit daraus verſchwinden; und man wird es kaum
glauben koͤnnen, daß es dieſelbe Rede ſey.

Lami faͤngt die Figuren mit dem Ausruffe an, weil dieſe die
natuͤrlichſte iſt, und in vielen Affecten zuerſt hervorbricht.
Denn es giebt einen Ausruff, in der Freude, Traurigkeit,
Rachgier u. ſ. w. Jmgleichen im Schrecken, Zagen, Ver-
zweifeln, Trotzen u. d. gl. Es giebt zwar gewiſſe Formeln,
ſo eigentlich dazu beſtimmt ſind, als Ach! O! Weh! Wohl-

an!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <cit>
            <quote><pb facs="#f0288" n="260"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">X.</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
Jch weiß, daß Jupiter &#x017F;ich dru&#x0364;ber hat entru&#x0364;&#x017F;t,<lb/>
Daß die verdorbne Welt &#x017F;o voller Fal&#x017F;chheit i&#x017F;t.<lb/>
Ein Bettler, der durch Sturm an meinen Strand gekommen,<lb/>
Wird von mir Tho&#x0364;richten zum Ko&#x0364;nig aufgenommen?<lb/>
Der Schiff und Gut verlohr und nur durch meine Hand,<lb/>
Neb&#x017F;t &#x017F;einem nackten Volck, des Lebens Rettung fand?<lb/>
Jch ber&#x017F;te fa&#x017F;t vor Zorn! Der Schmertz bringt mich zum ra&#x017F;en.<lb/>
Nun hat Apollo ihm was neues eingebla&#x017F;en,<lb/>
Ein Traum aus Lycien was anders prophezeyht,<lb/>
Ja &#x017F;elber Jupiter ihm drohend angedeut,<lb/>
Er &#x017F;olle &#x017F;einen Fuß in andre La&#x0364;nder tragen.<lb/>
Ja recht! Gott wird wohl viel nach deinem Schwa&#x0364;rmen fragen!<lb/>
Der Himmel, welchen nichts in &#x017F;einer Ruhe &#x017F;to&#x0364;rt,<lb/>
Hat &#x017F;eine Sorgen itzt auf deine Fahrt gekehrt.<lb/>
Doch lauf! ich halt dich nicht; Jch will nicht wieder&#x017F;prechen.<lb/>
Nur fort! und &#x017F;a&#x0364;ume nicht die Wellen durchzu&#x017F;techen.<lb/>
Such dein Jtalien, das dir &#x017F;o wohl gefa&#x0364;llt,<lb/>
Und wo die Hoffnung dir ein neues Reich be&#x017F;tellt.<lb/>
Jch weiß, der Himmel wird gerecht und heilig bleiben,<lb/>
Und dein ver&#x017F;chlagnes Schiff an Klipp und Syrten treiben,<lb/>
Da wird die wilde Fluth ein Ra&#x0364;cher meiner Pein,<lb/>
Da wird dein letztes Wort: Ach Dido! Dido! &#x017F;eyn.<lb/>
Ja wird der kalte Tod den warmen Gei&#x017F;t verjagen,<lb/>
Soll mein Ge&#x017F;pen&#x017F;te dich doch allenhalben plagen.<lb/>
Du &#x017F;oll&#x017F;t, du kan&#x017F;t, du wir&#x017F;t der Strafe nicht entgehn,<lb/>
Und ich will deine Quaal auch in der Grufft ver&#x017F;tehn!</quote>
          </cit><lb/>
          <p>Wer aus einer &#x017F;o hertz-ru&#x0364;hrenden Rede den Nachdruck der<lb/>
Figuren nicht begreifen kan, der muß wenig Empfindlich-<lb/>
keit und Nach&#x017F;innen be&#x017F;itzen. Wer aber u&#x0364;berfu&#x0364;hrt &#x017F;eyn<lb/>
will, daß die&#x017F;es ru&#x0364;hrende We&#x017F;en bloß von den Figuren<lb/>
herru&#x0364;hre, der darf nur eine andre Uber&#x017F;etzung von der la-<lb/>
teini&#x017F;chen Stelle machen, darinn alles &#x017F;chlechtweg ge&#x017F;agt<lb/>
wird; Sogleich wird alles Feuer, alle Hefftigkeit und alle<lb/>
Lebhafftigkeit daraus ver&#x017F;chwinden; und man wird es kaum<lb/>
glauben ko&#x0364;nnen, daß es die&#x017F;elbe Rede &#x017F;ey.</p><lb/>
          <p>Lami fa&#x0364;ngt die Figuren mit dem <hi rendition="#fr">Ausruffe</hi> an, weil die&#x017F;e die<lb/>
natu&#x0364;rlich&#x017F;te i&#x017F;t, und in vielen Affecten zuer&#x017F;t hervorbricht.<lb/>
Denn es giebt einen Ausruff, in der Freude, Traurigkeit,<lb/>
Rachgier u. &#x017F;. w. Jmgleichen im Schrecken, Zagen, Ver-<lb/>
zweifeln, Trotzen u. d. gl. Es giebt zwar gewi&#x017F;&#x017F;e Formeln,<lb/>
&#x017F;o eigentlich dazu be&#x017F;timmt &#x017F;ind, als Ach! O! Weh! Wohl-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">an!</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0288] Das X. Capitel Jch weiß, daß Jupiter ſich druͤber hat entruͤſt, Daß die verdorbne Welt ſo voller Falſchheit iſt. Ein Bettler, der durch Sturm an meinen Strand gekommen, Wird von mir Thoͤrichten zum Koͤnig aufgenommen? Der Schiff und Gut verlohr und nur durch meine Hand, Nebſt ſeinem nackten Volck, des Lebens Rettung fand? Jch berſte faſt vor Zorn! Der Schmertz bringt mich zum raſen. Nun hat Apollo ihm was neues eingeblaſen, Ein Traum aus Lycien was anders prophezeyht, Ja ſelber Jupiter ihm drohend angedeut, Er ſolle ſeinen Fuß in andre Laͤnder tragen. Ja recht! Gott wird wohl viel nach deinem Schwaͤrmen fragen! Der Himmel, welchen nichts in ſeiner Ruhe ſtoͤrt, Hat ſeine Sorgen itzt auf deine Fahrt gekehrt. Doch lauf! ich halt dich nicht; Jch will nicht wiederſprechen. Nur fort! und ſaͤume nicht die Wellen durchzuſtechen. Such dein Jtalien, das dir ſo wohl gefaͤllt, Und wo die Hoffnung dir ein neues Reich beſtellt. Jch weiß, der Himmel wird gerecht und heilig bleiben, Und dein verſchlagnes Schiff an Klipp und Syrten treiben, Da wird die wilde Fluth ein Raͤcher meiner Pein, Da wird dein letztes Wort: Ach Dido! Dido! ſeyn. Ja wird der kalte Tod den warmen Geiſt verjagen, Soll mein Geſpenſte dich doch allenhalben plagen. Du ſollſt, du kanſt, du wirſt der Strafe nicht entgehn, Und ich will deine Quaal auch in der Grufft verſtehn! Wer aus einer ſo hertz-ruͤhrenden Rede den Nachdruck der Figuren nicht begreifen kan, der muß wenig Empfindlich- keit und Nachſinnen beſitzen. Wer aber uͤberfuͤhrt ſeyn will, daß dieſes ruͤhrende Weſen bloß von den Figuren herruͤhre, der darf nur eine andre Uberſetzung von der la- teiniſchen Stelle machen, darinn alles ſchlechtweg geſagt wird; Sogleich wird alles Feuer, alle Hefftigkeit und alle Lebhafftigkeit daraus verſchwinden; und man wird es kaum glauben koͤnnen, daß es dieſelbe Rede ſey. Lami faͤngt die Figuren mit dem Ausruffe an, weil dieſe die natuͤrlichſte iſt, und in vielen Affecten zuerſt hervorbricht. Denn es giebt einen Ausruff, in der Freude, Traurigkeit, Rachgier u. ſ. w. Jmgleichen im Schrecken, Zagen, Ver- zweifeln, Trotzen u. d. gl. Es giebt zwar gewiſſe Formeln, ſo eigentlich dazu beſtimmt ſind, als Ach! O! Weh! Wohl- an!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/288
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/288>, abgerufen am 25.11.2024.