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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das IX. Capitel
Jhr stoltzen Krieger, laßt einmahl sehen, worauf sich eure
Tugend stützt, und wo euch dann das Hertz im Leibe sitzt,
wenn sich das Glück verdrehen will. Allein er hat es weit
edler so gesetzt.

Laßt einmahl, stoltze Krieger, sehen
Worauf sich eure Tugend stützt?
Wo, wenn das Glück sich will verdrehen,
Euch denn das Hertz im Leibe sitzt?

Jch könnte auch aus unsern übrigen Poeten, noch unzehliche
Stellen anführen, dieses zu behaupten: wenn die bereits er-
wehnten nicht bereits zulänglich wären. Jch will aber lie-
ber noch eine Anmerckung machen und den Grund dieser
aus erlaubten Versetzungen entspringenden Schönheit ent-
decken. Einmahl ist es gewiß, daß auch unsre Prose sehr
vielerley Versetzungen leidet, davon aber eine immer bes-
ser klinget als die andre. Z. E. des Herrn von Canitz
Trauer-Rede auf die Brandenb. Prinzessin Henriette hebt
so an: "Fürsten sterben zwar eben so, wie andre Menschen.
"Doch haben sie zu solcher Zeit vor andern ein grosses vor-
aus." Diesen Satz hätte man unsrer Mundart unbe-
schadet, auch so vortragen können: Zwar sterben die Für-
sten eben so, wie andre Menschen, doch haben sie vor an-
dern zu solcher Zeit ein grosses voraus. Jmgleichen in dem
nechstfolgenden Satze: "Was ihr Tod nach sich zieht, giebt
"nicht nur eine Veränderung in einem Hause oder Ge-
"schlechte, sondern auch zugleich in unzehlich vielen Seelen.
Hier hätte das Wort eine Veränderung noch an zwey ver-
schiedene Stellen gesetzt werden können, nehmlich nach Ge-
schlechte,
und gantz am Ende. Jn andern Stellen dieser
Rede würden sich noch mehrere erlaubte Versetzungen vor-
nehmen lassen.

Fragt man nun ferner, welche Ordnung der andern in
zweifelhafften Fällen vorzuziehen ist? so sage ich erstlich: Die
am besten klinget. Das Urtheil der Ohren enscheidet die
Schwierigkeit am besten; und auf das Gehör des Scri-
benten kommt es hauptsächlich an, wenn die Schreibart
des einen wohlfließend und harmonisch ist; des andern Aus-

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Das IX. Capitel
Jhr ſtoltzen Krieger, laßt einmahl ſehen, worauf ſich eure
Tugend ſtuͤtzt, und wo euch dann das Hertz im Leibe ſitzt,
wenn ſich das Gluͤck verdrehen will. Allein er hat es weit
edler ſo geſetzt.

Laßt einmahl, ſtoltze Krieger, ſehen
Worauf ſich eure Tugend ſtuͤtzt?
Wo, wenn das Gluͤck ſich will verdrehen,
Euch denn das Hertz im Leibe ſitzt?

Jch koͤnnte auch aus unſern uͤbrigen Poeten, noch unzehliche
Stellen anfuͤhren, dieſes zu behaupten: wenn die bereits er-
wehnten nicht bereits zulaͤnglich waͤren. Jch will aber lie-
ber noch eine Anmerckung machen und den Grund dieſer
aus erlaubten Verſetzungen entſpringenden Schoͤnheit ent-
decken. Einmahl iſt es gewiß, daß auch unſre Proſe ſehr
vielerley Verſetzungen leidet, davon aber eine immer beſ-
ſer klinget als die andre. Z. E. des Herrn von Canitz
Trauer-Rede auf die Brandenb. Prinzeſſin Henriette hebt
ſo an: „Fuͤrſten ſterben zwar eben ſo, wie andre Menſchen.
„Doch haben ſie zu ſolcher Zeit vor andern ein groſſes vor-
aus.„ Dieſen Satz haͤtte man unſrer Mundart unbe-
ſchadet, auch ſo vortragen koͤnnen: Zwar ſterben die Fuͤr-
ſten eben ſo, wie andre Menſchen, doch haben ſie vor an-
dern zu ſolcher Zeit ein groſſes voraus. Jmgleichen in dem
nechſtfolgenden Satze: „Was ihr Tod nach ſich zieht, giebt
„nicht nur eine Veraͤnderung in einem Hauſe oder Ge-
„ſchlechte, ſondern auch zugleich in unzehlich vielen Seelen.
Hier haͤtte das Wort eine Veraͤnderung noch an zwey ver-
ſchiedene Stellen geſetzt werden koͤnnen, nehmlich nach Ge-
ſchlechte,
und gantz am Ende. Jn andern Stellen dieſer
Rede wuͤrden ſich noch mehrere erlaubte Verſetzungen vor-
nehmen laſſen.

Fragt man nun ferner, welche Ordnung der andern in
zweifelhafften Faͤllen vorzuziehen iſt? ſo ſage ich erſtlich: Die
am beſten klinget. Das Urtheil der Ohren enſcheidet die
Schwierigkeit am beſten; und auf das Gehoͤr des Scri-
benten kommt es hauptſaͤchlich an, wenn die Schreibart
des einen wohlfließend und harmoniſch iſt; des andern Aus-

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[254/0282] Das IX. Capitel Jhr ſtoltzen Krieger, laßt einmahl ſehen, worauf ſich eure Tugend ſtuͤtzt, und wo euch dann das Hertz im Leibe ſitzt, wenn ſich das Gluͤck verdrehen will. Allein er hat es weit edler ſo geſetzt. Laßt einmahl, ſtoltze Krieger, ſehen Worauf ſich eure Tugend ſtuͤtzt? Wo, wenn das Gluͤck ſich will verdrehen, Euch denn das Hertz im Leibe ſitzt? Jch koͤnnte auch aus unſern uͤbrigen Poeten, noch unzehliche Stellen anfuͤhren, dieſes zu behaupten: wenn die bereits er- wehnten nicht bereits zulaͤnglich waͤren. Jch will aber lie- ber noch eine Anmerckung machen und den Grund dieſer aus erlaubten Verſetzungen entſpringenden Schoͤnheit ent- decken. Einmahl iſt es gewiß, daß auch unſre Proſe ſehr vielerley Verſetzungen leidet, davon aber eine immer beſ- ſer klinget als die andre. Z. E. des Herrn von Canitz Trauer-Rede auf die Brandenb. Prinzeſſin Henriette hebt ſo an: „Fuͤrſten ſterben zwar eben ſo, wie andre Menſchen. „Doch haben ſie zu ſolcher Zeit vor andern ein groſſes vor- aus.„ Dieſen Satz haͤtte man unſrer Mundart unbe- ſchadet, auch ſo vortragen koͤnnen: Zwar ſterben die Fuͤr- ſten eben ſo, wie andre Menſchen, doch haben ſie vor an- dern zu ſolcher Zeit ein groſſes voraus. Jmgleichen in dem nechſtfolgenden Satze: „Was ihr Tod nach ſich zieht, giebt „nicht nur eine Veraͤnderung in einem Hauſe oder Ge- „ſchlechte, ſondern auch zugleich in unzehlich vielen Seelen. Hier haͤtte das Wort eine Veraͤnderung noch an zwey ver- ſchiedene Stellen geſetzt werden koͤnnen, nehmlich nach Ge- ſchlechte, und gantz am Ende. Jn andern Stellen dieſer Rede wuͤrden ſich noch mehrere erlaubte Verſetzungen vor- nehmen laſſen. Fragt man nun ferner, welche Ordnung der andern in zweifelhafften Faͤllen vorzuziehen iſt? ſo ſage ich erſtlich: Die am beſten klinget. Das Urtheil der Ohren enſcheidet die Schwierigkeit am beſten; und auf das Gehoͤr des Scri- benten kommt es hauptſaͤchlich an, wenn die Schreibart des einen wohlfließend und harmoniſch iſt; des andern Aus- druck

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/282>, abgerufen am 25.11.2024.