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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das IX. Capitel
digen muß, das werde ich gewiß an keinem andern loben,
er sey auch wer er wolle.

Noch einerley Frage fällt wegen der Hülfs-Wörter vor,
ob man sie nehmlich ohne Unterscheid vor, oder hinter ihr
Haupt-Wort setzen könne. Z. E.

Wär es zu jener Zeit, da man auf Tuch und Rinden,
Jn Ceder-Oehl getränckt, auf Helfenbein und Linden,
Und Bley, und Därm, und Ertz, und Wachs, und Leder schrieb,
Und solches alles zwar mit grossen Kosten trieb:
So würde Cassius sich eher lassen lencken,
Und nicht, wie er gethan, auf tausend Bücher dencken,
Die man dennoch zu nichts sonst tauglich hat erkannt,
Als daß man sie samt ihm zu Asche hat verbrannt
Francke.

Hier findet man in der fünften Zeile das Hülfs-Wort las-
sen,
vor sein Haupt-Wort lencken gesetzt, welches in un-
gebundner Rede hinten würde gestanden haben. Jmglei-
gleichen ist in beyden letzten das hat ebenfalls vorne, da es
doch nach prosaischer Ordnung hinten seyn solte. Allein
man sieht wohl, daß dieses wieder die obige Regel läuft,
und also vor keine Schönheit sondern vor einen Ubelstand
zu halten ist. Noch eins aus eben dem Poeten:

Es würde der Lucil wohl eher sich ermüden,
Und nicht zwey hundert Vers in einer Stunde schmieden,
Und zwar auf einem Fuß. Jch selber ließ es seyn,
Und zöge meine Schrifft zuzeiten enger ein,
Wann nicht der leichte Griff, da man mit grossem Frommen
Auf Lumpen schreiben kan, nunmehr wär aufgekommen.

Hier ist abermahl das wär in der letzten Zeile auf der un-
rechten Stelle: denn es sollte heissen aufgekommen wäre.
Gesetzt nun, daß dieses nur ein kleiner Fehler ist, den man
an einem grossen Poeten leicht übersieht, wenn er nur nicht
offt kommt: so ist es doch ein Fehler, der einer Entschuldi-
gung bedarf, und den man lieber zu vermeiden suchet, wenn
man ohne Tadel reden will.

Eine von den allervornehmsten Tugenden eines guten
Poetischen Periodi, ist die Deutlichkeit desselben. Diese
muß in gebundner Rede eben so wohl als in ungebundner

statt

Das IX. Capitel
digen muß, das werde ich gewiß an keinem andern loben,
er ſey auch wer er wolle.

Noch einerley Frage faͤllt wegen der Huͤlfs-Woͤrter vor,
ob man ſie nehmlich ohne Unterſcheid vor, oder hinter ihr
Haupt-Wort ſetzen koͤnne. Z. E.

Waͤr es zu jener Zeit, da man auf Tuch und Rinden,
Jn Ceder-Oehl getraͤnckt, auf Helfenbein und Linden,
Und Bley, und Daͤrm, und Ertz, und Wachs, und Leder ſchrieb,
Und ſolches alles zwar mit groſſen Koſten trieb:
So wuͤrde Caſſius ſich eher laſſen lencken,
Und nicht, wie er gethan, auf tauſend Buͤcher dencken,
Die man dennoch zu nichts ſonſt tauglich hat erkannt,
Als daß man ſie ſamt ihm zu Aſche hat verbrannt
Francke.

Hier findet man in der fuͤnften Zeile das Huͤlfs-Wort laſ-
ſen,
vor ſein Haupt-Wort lencken geſetzt, welches in un-
gebundner Rede hinten wuͤrde geſtanden haben. Jmglei-
gleichen iſt in beyden letzten das hat ebenfalls vorne, da es
doch nach proſaiſcher Ordnung hinten ſeyn ſolte. Allein
man ſieht wohl, daß dieſes wieder die obige Regel laͤuft,
und alſo vor keine Schoͤnheit ſondern vor einen Ubelſtand
zu halten iſt. Noch eins aus eben dem Poeten:

Es wuͤrde der Lucil wohl eher ſich ermuͤden,
Und nicht zwey hundert Vers in einer Stunde ſchmieden,
Und zwar auf einem Fuß. Jch ſelber ließ es ſeyn,
Und zoͤge meine Schrifft zuzeiten enger ein,
Wann nicht der leichte Griff, da man mit groſſem Frommen
Auf Lumpen ſchreiben kan, nunmehr waͤr aufgekommen.

Hier iſt abermahl das waͤr in der letzten Zeile auf der un-
rechten Stelle: denn es ſollte heiſſen aufgekommen waͤre.
Geſetzt nun, daß dieſes nur ein kleiner Fehler iſt, den man
an einem groſſen Poeten leicht uͤberſieht, wenn er nur nicht
offt kommt: ſo iſt es doch ein Fehler, der einer Entſchuldi-
gung bedarf, und den man lieber zu vermeiden ſuchet, wenn
man ohne Tadel reden will.

Eine von den allervornehmſten Tugenden eines guten
Poetiſchen Periodi, iſt die Deutlichkeit deſſelben. Dieſe
muß in gebundner Rede eben ſo wohl als in ungebundner

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[248/0276] Das IX. Capitel digen muß, das werde ich gewiß an keinem andern loben, er ſey auch wer er wolle. Noch einerley Frage faͤllt wegen der Huͤlfs-Woͤrter vor, ob man ſie nehmlich ohne Unterſcheid vor, oder hinter ihr Haupt-Wort ſetzen koͤnne. Z. E. Waͤr es zu jener Zeit, da man auf Tuch und Rinden, Jn Ceder-Oehl getraͤnckt, auf Helfenbein und Linden, Und Bley, und Daͤrm, und Ertz, und Wachs, und Leder ſchrieb, Und ſolches alles zwar mit groſſen Koſten trieb: So wuͤrde Caſſius ſich eher laſſen lencken, Und nicht, wie er gethan, auf tauſend Buͤcher dencken, Die man dennoch zu nichts ſonſt tauglich hat erkannt, Als daß man ſie ſamt ihm zu Aſche hat verbrannt Francke. Hier findet man in der fuͤnften Zeile das Huͤlfs-Wort laſ- ſen, vor ſein Haupt-Wort lencken geſetzt, welches in un- gebundner Rede hinten wuͤrde geſtanden haben. Jmglei- gleichen iſt in beyden letzten das hat ebenfalls vorne, da es doch nach proſaiſcher Ordnung hinten ſeyn ſolte. Allein man ſieht wohl, daß dieſes wieder die obige Regel laͤuft, und alſo vor keine Schoͤnheit ſondern vor einen Ubelſtand zu halten iſt. Noch eins aus eben dem Poeten: Es wuͤrde der Lucil wohl eher ſich ermuͤden, Und nicht zwey hundert Vers in einer Stunde ſchmieden, Und zwar auf einem Fuß. Jch ſelber ließ es ſeyn, Und zoͤge meine Schrifft zuzeiten enger ein, Wann nicht der leichte Griff, da man mit groſſem Frommen Auf Lumpen ſchreiben kan, nunmehr waͤr aufgekommen. Hier iſt abermahl das waͤr in der letzten Zeile auf der un- rechten Stelle: denn es ſollte heiſſen aufgekommen waͤre. Geſetzt nun, daß dieſes nur ein kleiner Fehler iſt, den man an einem groſſen Poeten leicht uͤberſieht, wenn er nur nicht offt kommt: ſo iſt es doch ein Fehler, der einer Entſchuldi- gung bedarf, und den man lieber zu vermeiden ſuchet, wenn man ohne Tadel reden will. Eine von den allervornehmſten Tugenden eines guten Poetiſchen Periodi, iſt die Deutlichkeit deſſelben. Dieſe muß in gebundner Rede eben ſo wohl als in ungebundner ſtatt

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/276>, abgerufen am 25.11.2024.