Dessen Eyd Nichts minder ihn verknüpft auf die Ergötzlichkeit Des Sultans, als aufs Heil des Reiches vorzusinnen.
Hier ist das vor augenscheinlich umsonst angeflickt, und än- dert die Bedeutung des Wortes eben so wenig, als in dem Niedersächsischen vorfinden. Welches nichts mehr als finden heist, und nur einen unnöthigen Vorsatz bekommen hat.
Hieher gehört ferner, wenn man forn eine Sylbe den Wörtern abbeist, z. E. raus vor heraus.
Der streichet pralend raus, was ihm in nechsten Tagen Vor reiche Töchter sind zur Heyrath angetragen. Canitz.
Und vor diesem so ungereimten Fehler hat sich auch Gün- ther, der doch sonst so rein schreibt, als man es wünschen kan, nicht allezeit in acht genommen. Und wie viel'rein vor herein, 'rauf vor herauf, 'rab vor herab, 'nein vor hinein, 'nauf, 'nab, 'nüber, 'nunter, 'rüber, 'runter, etc. findet man nicht bey einigen Neuern, die gewiß nicht bedencken, daß kein Mensch in ungebundner Rede jemahls so geschrieben, ob- gleich die Geschwindigkeit im Reden die erste Sylbe fast zu verbeissen pflegt. Eben dahin gehört auch das Wörtgen vor, welches einige anstatt zuvor, oder vormahls, zu brauchen pflegen: da sie doch leicht das sonst an seiner Stelle brau- chen könnten.
Nun weiß ich zwar, daß Aristoteles in dem bereits an- geführten Capitel seiner Poetic, diese Verlängerung und Verkürtzung der Wörter in der hohen poetischen Schreib- art dulden, ja gar vor eine Schönheit derselben halten will, dadurch man sich von der gemeinen Art zu reden entfernen könne. Allein da sich der alte Euclides ausdrücklich über Homerum beschweret, daß er solches gethan; so sehe ich daraus, daß solche gewaltsame Verstümmelung der Wör- ter auch in Griechenland anstößig gewesen. Denn in der That ist es wahr, daß es keine Kunst seyn würde, Verse zu machen, wenn es einem frey stünde, nach seiner Phan- tasie die Wörter auszudehnen und zu verkleinern; wie die-
ser
Das IX. Capitel
Deſſen Eyd Nichts minder ihn verknuͤpft auf die Ergoͤtzlichkeit Des Sultans, als aufs Heil des Reiches vorzuſinnen.
Hier iſt das vor augenſcheinlich umſonſt angeflickt, und aͤn- dert die Bedeutung des Wortes eben ſo wenig, als in dem Niederſaͤchſiſchen vorfinden. Welches nichts mehr als finden heiſt, und nur einen unnoͤthigen Vorſatz bekommen hat.
Hieher gehoͤrt ferner, wenn man forn eine Sylbe den Woͤrtern abbeiſt, z. E. raus vor heraus.
Der ſtreichet pralend raus, was ihm in nechſten Tagen Vor reiche Toͤchter ſind zur Heyrath angetragen. Canitz.
Und vor dieſem ſo ungereimten Fehler hat ſich auch Guͤn- ther, der doch ſonſt ſo rein ſchreibt, als man es wuͤnſchen kan, nicht allezeit in acht genommen. Und wie viel’rein vor herein, ’rauf vor herauf, ’rab vor herab, ’nein vor hinein, ’nauf, ’nab, ’nuͤber, ’nunter, ’ruͤber, ’runter, ꝛc. findet man nicht bey einigen Neuern, die gewiß nicht bedencken, daß kein Menſch in ungebundner Rede jemahls ſo geſchrieben, ob- gleich die Geſchwindigkeit im Reden die erſte Sylbe faſt zu verbeiſſen pflegt. Eben dahin gehoͤrt auch das Woͤrtgen vor, welches einige anſtatt zuvor, oder vormahls, zu brauchen pflegen: da ſie doch leicht das ſonſt an ſeiner Stelle brau- chen koͤnnten.
Nun weiß ich zwar, daß Ariſtoteles in dem bereits an- gefuͤhrten Capitel ſeiner Poetic, dieſe Verlaͤngerung und Verkuͤrtzung der Woͤrter in der hohen poetiſchen Schreib- art dulden, ja gar vor eine Schoͤnheit derſelben halten will, dadurch man ſich von der gemeinen Art zu reden entfernen koͤnne. Allein da ſich der alte Euclides ausdruͤcklich uͤber Homerum beſchweret, daß er ſolches gethan; ſo ſehe ich daraus, daß ſolche gewaltſame Verſtuͤmmelung der Woͤr- ter auch in Griechenland anſtoͤßig geweſen. Denn in der That iſt es wahr, daß es keine Kunſt ſeyn wuͤrde, Verſe zu machen, wenn es einem frey ſtuͤnde, nach ſeiner Phan- taſie die Woͤrter auszudehnen und zu verkleinern; wie die-
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Das IX. Capitel
Deſſen Eyd
Nichts minder ihn verknuͤpft auf die Ergoͤtzlichkeit
Des Sultans, als aufs Heil des Reiches vorzuſinnen.
Hier iſt das vor augenſcheinlich umſonſt angeflickt, und aͤn-
dert die Bedeutung des Wortes eben ſo wenig, als in dem
Niederſaͤchſiſchen vorfinden. Welches nichts mehr als
finden heiſt, und nur einen unnoͤthigen Vorſatz bekommen
hat.
Hieher gehoͤrt ferner, wenn man forn eine Sylbe den
Woͤrtern abbeiſt, z. E. raus vor heraus.
Der ſtreichet pralend raus, was ihm in nechſten Tagen
Vor reiche Toͤchter ſind zur Heyrath angetragen.
Canitz.
Und vor dieſem ſo ungereimten Fehler hat ſich auch Guͤn-
ther, der doch ſonſt ſo rein ſchreibt, als man es wuͤnſchen kan,
nicht allezeit in acht genommen. Und wie viel’rein vor herein,
’rauf vor herauf, ’rab vor herab, ’nein vor hinein, ’nauf,
’nab, ’nuͤber, ’nunter, ’ruͤber, ’runter, ꝛc. findet man nicht
bey einigen Neuern, die gewiß nicht bedencken, daß kein
Menſch in ungebundner Rede jemahls ſo geſchrieben, ob-
gleich die Geſchwindigkeit im Reden die erſte Sylbe faſt zu
verbeiſſen pflegt. Eben dahin gehoͤrt auch das Woͤrtgen vor,
welches einige anſtatt zuvor, oder vormahls, zu brauchen
pflegen: da ſie doch leicht das ſonſt an ſeiner Stelle brau-
chen koͤnnten.
Nun weiß ich zwar, daß Ariſtoteles in dem bereits an-
gefuͤhrten Capitel ſeiner Poetic, dieſe Verlaͤngerung und
Verkuͤrtzung der Woͤrter in der hohen poetiſchen Schreib-
art dulden, ja gar vor eine Schoͤnheit derſelben halten will,
dadurch man ſich von der gemeinen Art zu reden entfernen
koͤnne. Allein da ſich der alte Euclides ausdruͤcklich uͤber
Homerum beſchweret, daß er ſolches gethan; ſo ſehe ich
daraus, daß ſolche gewaltſame Verſtuͤmmelung der Woͤr-
ter auch in Griechenland anſtoͤßig geweſen. Denn in der
That iſt es wahr, daß es keine Kunſt ſeyn wuͤrde, Verſe
zu machen, wenn es einem frey ſtuͤnde, nach ſeiner Phan-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/272>, abgerufen am 22.11.2024.
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