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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Perioden und ihren Zierrathen.
Arma cano primus Trojae Lavina virumque
Italiam profugus qui Littora venit ab oris
Fato.

Es ist daher wohl gewiß, daß in lateinischen Poesien eben
so wohl die gewöhnliche Ordnung der ungebundenen Rede
hat müssen beobachtet werden, als im Deutschen. Und
wenn sich ja die Poeten aus Noth zuweilen eine Freyheit
heraus genommen, so ist es an ihnen mehr geduldet als gelo-
bet worden. Man kan hiernach in den Parrhasianis das-
jenige prüfen, was Clericus in den Gedancken von der
Poesie geschrieben.

Bey den Franzosen hat P. Cerceau in einem besondern
Tractate zu behaupten gesucht: Das Wesen der poeti-
schen Schreibart bestünde in einer blossen Versetzung der
Wörter. Er führet aus ihren besten Poeten die Stellen
an, die bloß darum edel und poetisch klingen, weil man
wieder die gemeine Art das hinterste vorn, und das vor-
derste hinten gesetzet. Nun weiß ich zwar, was ihm der
Puffier in seiner neuen Anleitung zur Poesie darauf geant-
wortet; nichts desto weniger aber scheint er so gantz unrecht
nicht zu haben. Denn einmahl ist es gewiß, daß die Fran-
zösischen Poeten sich vieler solcher Versetzung bedienen, die
kein prosaischer Scribent bey ihnen brauchet; welches sie
den Anfängern so schwer macht. Zweytens ist es auch ge-
wiß, daß eine Zeile ein gantz neues Ansehen kriegt, sobald
eine etwas ungewöhnlichere Ordnung in die Redensarten
gebracht worden; welches ich bald mit deutschen Exempeln
erläutern will. Darinn aber kan ich ihm nicht beyfallen,
wenn er die verblümten Redensarten vor nichts poetisches
ansehen will, da doch der häufige Gebrauch derselben, selbst
in Fenelons Telemach, die Schreibart viel zu edel macht,
als daß es eine prosaische heissen sollte. Die Critici haben
vorlängst die reichen Beschreibungen im Curtius und ge-
wisse verwegene Metaphoren im Florus vor einen poetischen
Ausdruck ausgegeben, obgleich dieselben nicht in Versen abge-
fasset gewesen. Und Quintilian im VI. Cap. s. VIII. B. gesteht

aus-
Q
Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen.
Arma cano primus Trojae Lavina virumque
Italiam profugus qui Littora venit ab oris
Fato.

Es iſt daher wohl gewiß, daß in lateiniſchen Poeſien eben
ſo wohl die gewoͤhnliche Ordnung der ungebundenen Rede
hat muͤſſen beobachtet werden, als im Deutſchen. Und
wenn ſich ja die Poeten aus Noth zuweilen eine Freyheit
heraus genommen, ſo iſt es an ihnen mehr geduldet als gelo-
bet worden. Man kan hiernach in den Parrhaſianis das-
jenige pruͤfen, was Clericus in den Gedancken von der
Poeſie geſchrieben.

Bey den Franzoſen hat P. Cerceau in einem beſondern
Tractate zu behaupten geſucht: Das Weſen der poeti-
ſchen Schreibart beſtuͤnde in einer bloſſen Verſetzung der
Woͤrter. Er fuͤhret aus ihren beſten Poeten die Stellen
an, die bloß darum edel und poetiſch klingen, weil man
wieder die gemeine Art das hinterſte vorn, und das vor-
derſte hinten geſetzet. Nun weiß ich zwar, was ihm der
Puffier in ſeiner neuen Anleitung zur Poeſie darauf geant-
wortet; nichts deſto weniger aber ſcheint er ſo gantz unrecht
nicht zu haben. Denn einmahl iſt es gewiß, daß die Fran-
zoͤſiſchen Poeten ſich vieler ſolcher Verſetzung bedienen, die
kein proſaiſcher Scribent bey ihnen brauchet; welches ſie
den Anfaͤngern ſo ſchwer macht. Zweytens iſt es auch ge-
wiß, daß eine Zeile ein gantz neues Anſehen kriegt, ſobald
eine etwas ungewoͤhnlichere Ordnung in die Redensarten
gebracht worden; welches ich bald mit deutſchen Exempeln
erlaͤutern will. Darinn aber kan ich ihm nicht beyfallen,
wenn er die verbluͤmten Redensarten vor nichts poetiſches
anſehen will, da doch der haͤufige Gebrauch derſelben, ſelbſt
in Fenelons Telemach, die Schreibart viel zu edel macht,
als daß es eine proſaiſche heiſſen ſollte. Die Critici haben
vorlaͤngſt die reichen Beſchreibungen im Curtius und ge-
wiſſe verwegene Metaphoren im Florus vor einen poetiſchen
Ausdruck ausgegeben, obgleich dieſelben nicht in Verſen abge-
faſſet geweſen. Und Quintilian im VI. Cap. ſ. VIII. B. geſteht

aus-
Q
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[241/0269] Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen. Arma cano primus Trojae Lavina virumque Italiam profugus qui Littora venit ab oris Fato. Es iſt daher wohl gewiß, daß in lateiniſchen Poeſien eben ſo wohl die gewoͤhnliche Ordnung der ungebundenen Rede hat muͤſſen beobachtet werden, als im Deutſchen. Und wenn ſich ja die Poeten aus Noth zuweilen eine Freyheit heraus genommen, ſo iſt es an ihnen mehr geduldet als gelo- bet worden. Man kan hiernach in den Parrhaſianis das- jenige pruͤfen, was Clericus in den Gedancken von der Poeſie geſchrieben. Bey den Franzoſen hat P. Cerceau in einem beſondern Tractate zu behaupten geſucht: Das Weſen der poeti- ſchen Schreibart beſtuͤnde in einer bloſſen Verſetzung der Woͤrter. Er fuͤhret aus ihren beſten Poeten die Stellen an, die bloß darum edel und poetiſch klingen, weil man wieder die gemeine Art das hinterſte vorn, und das vor- derſte hinten geſetzet. Nun weiß ich zwar, was ihm der Puffier in ſeiner neuen Anleitung zur Poeſie darauf geant- wortet; nichts deſto weniger aber ſcheint er ſo gantz unrecht nicht zu haben. Denn einmahl iſt es gewiß, daß die Fran- zoͤſiſchen Poeten ſich vieler ſolcher Verſetzung bedienen, die kein proſaiſcher Scribent bey ihnen brauchet; welches ſie den Anfaͤngern ſo ſchwer macht. Zweytens iſt es auch ge- wiß, daß eine Zeile ein gantz neues Anſehen kriegt, ſobald eine etwas ungewoͤhnlichere Ordnung in die Redensarten gebracht worden; welches ich bald mit deutſchen Exempeln erlaͤutern will. Darinn aber kan ich ihm nicht beyfallen, wenn er die verbluͤmten Redensarten vor nichts poetiſches anſehen will, da doch der haͤufige Gebrauch derſelben, ſelbſt in Fenelons Telemach, die Schreibart viel zu edel macht, als daß es eine proſaiſche heiſſen ſollte. Die Critici haben vorlaͤngſt die reichen Beſchreibungen im Curtius und ge- wiſſe verwegene Metaphoren im Florus vor einen poetiſchen Ausdruck ausgegeben, obgleich dieſelben nicht in Verſen abge- faſſet geweſen. Und Quintilian im VI. Cap. ſ. VIII. B. geſteht aus- Q

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/269>, abgerufen am 24.11.2024.