falls mit der poetischen Freyheit, der sie sich doch durch den, der obigen Regel gegebenen Beyfall begeben hatten: oder meynen doch, um eines guten Gedanckens halber, stehe es ih- nen frey, die Sprache zu verstümmeln. Bey den alten La- teinern und Griechen hat man sich in diesem Stücke so sehr nicht binden dörfen, und man hält insgemein davor, es wä- re ihren Poeten eine jede Versetzung der Wörter und Re- densarten gleichgültig gewesen. Allein ich habe bisher noch keinen Beweis davon zulänglich befunden. Jn Ari- stotelis Poetic c. 23. finde ich, daß ein damahliger Criticus, Ariphrades, die Versetzung der Wörter an den Tragischen Poeten getadelt, unter andern wenn sie das Fürwort nach seinem Nennworte gestellet: Z. E. domaton apo, domo ex, an statt ex domo. Wiewohl nun Aristoteles hier die Ver- theidigung der Poeten über sich nimmt: und sie gar des- wegen lobet, daß sie von der gemeinen Art zu reden abwei- chen: So schliesse ich doch daraus, daß es in der Griechi- schen Sprache nicht gleichviel gewesen, wie man die Wör- ter geordnet, und daß man auch bey ihnen von einem gu- ten Poeten gefordert habe, bey der natürlichen Wortfügung zu bleiben. Von den Lateinern ist es eben so gewiß, daß man nicht alle mögliche Versetzungen bey den Poeten habe dulden können. Z. E. der Vers Virgils:
Arma virumque cano, Trojae qui primus ab oris Italiam fato profugus Lavinaque venit Littora. &c.
hätte gar leicht auch folgender Gestalt ins Sylbenmaaß gebracht werden können:
Arma virumque cano, profugus qui primus ab oris Italiam Trojae venit, Lavinaque fato Littora.
Doch glaube ich, daß dem Virgil und allen Römern über einer so seltsamen Versetzung der Wörter die Ohren wür- den weh gethan haben. Und doch ist es noch möglich eine weit ärgere Unordnung in diese Wörter zu bringen, dabey endlich der gantze Verstand der Zeilen verschwinden würde. Z. E.
Arma
Das IX. Capitel
falls mit der poetiſchen Freyheit, der ſie ſich doch durch den, der obigen Regel gegebenen Beyfall begeben hatten: oder meynen doch, um eines guten Gedanckens halber, ſtehe es ih- nen frey, die Sprache zu verſtuͤmmeln. Bey den alten La- teinern und Griechen hat man ſich in dieſem Stuͤcke ſo ſehr nicht binden doͤrfen, und man haͤlt insgemein davor, es waͤ- re ihren Poeten eine jede Verſetzung der Woͤrter und Re- densarten gleichguͤltig geweſen. Allein ich habe bisher noch keinen Beweis davon zulaͤnglich befunden. Jn Ari- ſtotelis Poetic c. 23. finde ich, daß ein damahliger Criticus, Ariphrades, die Verſetzung der Woͤrter an den Tragiſchen Poeten getadelt, unter andern wenn ſie das Fuͤrwort nach ſeinem Nennworte geſtellet: Z. E. δωμάτων ἀπὸ, domo ex, an ſtatt ex domo. Wiewohl nun Ariſtoteles hier die Ver- theidigung der Poeten uͤber ſich nimmt: und ſie gar des- wegen lobet, daß ſie von der gemeinen Art zu reden abwei- chen: So ſchlieſſe ich doch daraus, daß es in der Griechi- ſchen Sprache nicht gleichviel geweſen, wie man die Woͤr- ter geordnet, und daß man auch bey ihnen von einem gu- ten Poeten gefordert habe, bey der natuͤrlichen Wortfuͤgung zu bleiben. Von den Lateinern iſt es eben ſo gewiß, daß man nicht alle moͤgliche Verſetzungen bey den Poeten habe dulden koͤnnen. Z. E. der Vers Virgils:
Arma virumque cano, Trojae qui primus ab oris Italiam fato profugus Lavinaque venit Littora. &c.
haͤtte gar leicht auch folgender Geſtalt ins Sylbenmaaß gebracht werden koͤnnen:
Arma virumque cano, profugus qui primus ab oris Italiam Trojae venit, Lavinaque fato Littora.
Doch glaube ich, daß dem Virgil und allen Roͤmern uͤber einer ſo ſeltſamen Verſetzung der Woͤrter die Ohren wuͤr- den weh gethan haben. Und doch iſt es noch moͤglich eine weit aͤrgere Unordnung in dieſe Woͤrter zu bringen, dabey endlich der gantze Verſtand der Zeilen verſchwinden wuͤrde. Z. E.
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Das IX. Capitel
falls mit der poetiſchen Freyheit, der ſie ſich doch durch den,
der obigen Regel gegebenen Beyfall begeben hatten: oder
meynen doch, um eines guten Gedanckens halber, ſtehe es ih-
nen frey, die Sprache zu verſtuͤmmeln. Bey den alten La-
teinern und Griechen hat man ſich in dieſem Stuͤcke ſo ſehr
nicht binden doͤrfen, und man haͤlt insgemein davor, es waͤ-
re ihren Poeten eine jede Verſetzung der Woͤrter und Re-
densarten gleichguͤltig geweſen. Allein ich habe bisher
noch keinen Beweis davon zulaͤnglich befunden. Jn Ari-
ſtotelis Poetic c. 23. finde ich, daß ein damahliger Criticus,
Ariphrades, die Verſetzung der Woͤrter an den Tragiſchen
Poeten getadelt, unter andern wenn ſie das Fuͤrwort nach
ſeinem Nennworte geſtellet: Z. E. δωμάτων ἀπὸ, domo ex,
an ſtatt ex domo. Wiewohl nun Ariſtoteles hier die Ver-
theidigung der Poeten uͤber ſich nimmt: und ſie gar des-
wegen lobet, daß ſie von der gemeinen Art zu reden abwei-
chen: So ſchlieſſe ich doch daraus, daß es in der Griechi-
ſchen Sprache nicht gleichviel geweſen, wie man die Woͤr-
ter geordnet, und daß man auch bey ihnen von einem gu-
ten Poeten gefordert habe, bey der natuͤrlichen Wortfuͤgung
zu bleiben. Von den Lateinern iſt es eben ſo gewiß, daß
man nicht alle moͤgliche Verſetzungen bey den Poeten habe
dulden koͤnnen. Z. E. der Vers Virgils:
Arma virumque cano, Trojae qui primus ab oris
Italiam fato profugus Lavinaque venit
Littora. &c.
haͤtte gar leicht auch folgender Geſtalt ins Sylbenmaaß
gebracht werden koͤnnen:
Arma virumque cano, profugus qui primus ab oris
Italiam Trojae venit, Lavinaque fato
Littora.
Doch glaube ich, daß dem Virgil und allen Roͤmern uͤber
einer ſo ſeltſamen Verſetzung der Woͤrter die Ohren wuͤr-
den weh gethan haben. Und doch iſt es noch moͤglich eine
weit aͤrgere Unordnung in dieſe Woͤrter zu bringen, dabey
endlich der gantze Verſtand der Zeilen verſchwinden wuͤrde.
Z. E.
Arma
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/268>, abgerufen am 27.01.2025.
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