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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das VIII. Capitel
ten Exempel können dieses sattsam erweisen. Es ist aber auch
an sich selbst leicht zu begreifen: denn die Einbildungs-Krafft
bringt die Begriffe desto klärer hervor, je stärckere Eindrü-
ckungen man davon sonst gehabt. Nun wircken aber die
meisten Sinne sehr starck in die Seele; sonderlich aber wirckt
das Gesicht bey Empfindung des Lichts und der Farben sehr
klare, von Figuren und Größen aber auch deutliche Begriffe.
Ein Wort also, welches dahin gehöret, kan auch eine un-
sichtbare Sache gleichsam sichtbar machen, wenn es in ver-
blümtem Verstande dazu gebrauchet wird.

Die andre Art verblümter Reden ist die Metonymie,
welche man ein Nahmenlehn mit Longolio nennen könnte.
Man setzet aber darinn entweder die Ursache, und meynet die
Wirckung derselben: als wenn ich einen Scribenten vor sei-
ne Schrifften nenne:

Der reiche Seneca an Witz und an Vermögen,
Der schlaue Tacitus, und was noch ist zugegen,
Muß allzeit um mich seyn. Opitz.

Oder umgekehrt, die Wirckung vor die Ursache, als wenn
ich den Pan die Furcht der Nymphen nennte:

Phyllis schickt Silvanen Kräntze,
Alle Nymphen führen Täntze,
Jhre Furcht, der geile Pan,
Geht nicht minder stets im Reyhen etc.
Dach.

Oder die Hauptsache anstatt eines Nebendinges: und zwar
erstlich, das Behältniß vor das Enthaltene, als wenn ich den
Helicon setze und die Musen meyne.

Der gantze Helicon ist schon um diese Zeit,
Um seine Bücher her, und dichtet allbereit,
Das was man rühmen muß. Flemming.

Zweytens der Besitzer anstatt seines Eigenthums, als wenn
man den Phöbus anstatt der poetischen Triebe setzt, die ihm
angehören.

Phöbus ist bey mir daheime,
Diese Kunst der Deutschen Reime,
Lernet Preußen erst von mir. etc. Dach.

Drit-

Das VIII. Capitel
ten Exempel koͤnnen dieſes ſattſam erweiſen. Es iſt aber auch
an ſich ſelbſt leicht zu begreifen: denn die Einbildungs-Krafft
bringt die Begriffe deſto klaͤrer hervor, je ſtaͤrckere Eindruͤ-
ckungen man davon ſonſt gehabt. Nun wircken aber die
meiſten Sinne ſehr ſtarck in die Seele; ſonderlich aber wirckt
das Geſicht bey Empfindung des Lichts und der Farben ſehr
klare, von Figuren und Groͤßen aber auch deutliche Begriffe.
Ein Wort alſo, welches dahin gehoͤret, kan auch eine un-
ſichtbare Sache gleichſam ſichtbar machen, wenn es in ver-
bluͤmtem Verſtande dazu gebrauchet wird.

Die andre Art verbluͤmter Reden iſt die Metonymie,
welche man ein Nahmenlehn mit Longolio nennen koͤnnte.
Man ſetzet aber darinn entweder die Urſache, und meynet die
Wirckung derſelben: als wenn ich einen Scribenten vor ſei-
ne Schrifften nenne:

Der reiche Seneca an Witz und an Vermoͤgen,
Der ſchlaue Tacitus, und was noch iſt zugegen,
Muß allzeit um mich ſeyn. Opitz.

Oder umgekehrt, die Wirckung vor die Urſache, als wenn
ich den Pan die Furcht der Nymphen nennte:

Phyllis ſchickt Silvanen Kraͤntze,
Alle Nymphen fuͤhren Taͤntze,
Jhre Furcht, der geile Pan,
Geht nicht minder ſtets im Reyhen ꝛc.
Dach.

Oder die Hauptſache anſtatt eines Nebendinges: und zwar
erſtlich, das Behaͤltniß vor das Enthaltene, als wenn ich den
Helicon ſetze und die Muſen meyne.

Der gantze Helicon iſt ſchon um dieſe Zeit,
Um ſeine Buͤcher her, und dichtet allbereit,
Das was man ruͤhmen muß. Flemming.

Zweytens der Beſitzer anſtatt ſeines Eigenthums, als wenn
man den Phoͤbus anſtatt der poetiſchen Triebe ſetzt, die ihm
angehoͤren.

Phoͤbus iſt bey mir daheime,
Dieſe Kunſt der Deutſchen Reime,
Lernet Preußen erſt von mir. ꝛc. Dach.

Drit-
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[222/0250] Das VIII. Capitel ten Exempel koͤnnen dieſes ſattſam erweiſen. Es iſt aber auch an ſich ſelbſt leicht zu begreifen: denn die Einbildungs-Krafft bringt die Begriffe deſto klaͤrer hervor, je ſtaͤrckere Eindruͤ- ckungen man davon ſonſt gehabt. Nun wircken aber die meiſten Sinne ſehr ſtarck in die Seele; ſonderlich aber wirckt das Geſicht bey Empfindung des Lichts und der Farben ſehr klare, von Figuren und Groͤßen aber auch deutliche Begriffe. Ein Wort alſo, welches dahin gehoͤret, kan auch eine un- ſichtbare Sache gleichſam ſichtbar machen, wenn es in ver- bluͤmtem Verſtande dazu gebrauchet wird. Die andre Art verbluͤmter Reden iſt die Metonymie, welche man ein Nahmenlehn mit Longolio nennen koͤnnte. Man ſetzet aber darinn entweder die Urſache, und meynet die Wirckung derſelben: als wenn ich einen Scribenten vor ſei- ne Schrifften nenne: Der reiche Seneca an Witz und an Vermoͤgen, Der ſchlaue Tacitus, und was noch iſt zugegen, Muß allzeit um mich ſeyn. Opitz. Oder umgekehrt, die Wirckung vor die Urſache, als wenn ich den Pan die Furcht der Nymphen nennte: Phyllis ſchickt Silvanen Kraͤntze, Alle Nymphen fuͤhren Taͤntze, Jhre Furcht, der geile Pan, Geht nicht minder ſtets im Reyhen ꝛc. Dach. Oder die Hauptſache anſtatt eines Nebendinges: und zwar erſtlich, das Behaͤltniß vor das Enthaltene, als wenn ich den Helicon ſetze und die Muſen meyne. Der gantze Helicon iſt ſchon um dieſe Zeit, Um ſeine Buͤcher her, und dichtet allbereit, Das was man ruͤhmen muß. Flemming. Zweytens der Beſitzer anſtatt ſeines Eigenthums, als wenn man den Phoͤbus anſtatt der poetiſchen Triebe ſetzt, die ihm angehoͤren. Phoͤbus iſt bey mir daheime, Dieſe Kunſt der Deutſchen Reime, Lernet Preußen erſt von mir. ꝛc. Dach. Drit-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/250>, abgerufen am 22.11.2024.