"Wer itzo in seinem gantzen Leben funfzig Jahre zurü- "ckelegen kan, dem scheinet es trefflich viel zu seyn. Die "Welt nimmt alle Tage ab, und will uns fast Abschied geben. "Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je kürtzer wird auch das "Ziel. Welchen GOtt derohalben mit dieser Gnade segnet, "daß er noch funfzig Jahre in seiner Ehe vollbringt, dem ist "ein solch Wunderwerck und Glück wiederfahren, das kaum "einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. etc.
Nun möchte ich gern wissen, wo hier das poetische We- sen stecket; wo sich der Geist und Witz eines Dichters gewie- sen habe? Alles dieses hat meines Erachtens ein jeder den- cken und schreiben können, der niemahls einen Poeten gesehen oder gelesen, ja kein Wort von Poesie reden gehört. Jn der Besserischen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der gemeinsten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben- maaß und die Reime wegschaffet.
"Daß auf Erden von den Menschen Ehen vorgenommen "werden, das kommt nicht vom Vorsatze der Menschen her. "Es ist ein Werck Jupiters; Es ist mein Thun, der ich die "Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen "lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur "von mir beschlossen werden.
Vielleicht halten viele davor, daß dieses eben die rechte Schönheit der vernünftigen Poesie sey, gantz natürlich zu re- den, und sich von allen schwülstigen Redensarten zu enthal- ten. Allein wir wollen uns erstlich erinnern, daß Horatz uns vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch über allen Wolcken nach leerer Lufft zu schnappen; noch im Staube zu kriechen: sondern die Mittelstraße zu halten, und auf dem er- habenen Parnaß zu gehen befohlen.
Professus grandia, turget; Serpit humi, tutus nimium timidusque procellae: In vitium ducit culpae fuga, si caret arte.
Vors andre ist es längst auch von Rednern angemercket wor- den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verblümte Re- densarten, so gar der ungebundnen Rede eine besondre An- muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red-
ner
Das VIII. Capitel
„Wer itzo in ſeinem gantzen Leben funfzig Jahre zuruͤ- „ckelegen kan, dem ſcheinet es trefflich viel zu ſeyn. Die „Welt nimmt alle Tage ab, und will uns faſt Abſchied geben. „Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je kuͤrtzer wird auch das „Ziel. Welchen GOtt derohalben mit dieſer Gnade ſegnet, „daß er noch funfzig Jahre in ſeiner Ehe vollbringt, dem iſt „ein ſolch Wunderwerck und Gluͤck wiederfahren, das kaum „einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. ꝛc.
Nun moͤchte ich gern wiſſen, wo hier das poetiſche We- ſen ſtecket; wo ſich der Geiſt und Witz eines Dichters gewie- ſen habe? Alles dieſes hat meines Erachtens ein jeder den- cken und ſchreiben koͤnnen, der niemahls einen Poeten geſehen oder geleſen, ja kein Wort von Poeſie reden gehoͤrt. Jn der Beſſeriſchen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der gemeinſten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben- maaß und die Reime wegſchaffet.
„Daß auf Erden von den Menſchen Ehen vorgenommen „werden, das kommt nicht vom Vorſatze der Menſchen her. „Es iſt ein Werck Jupiters; Es iſt mein Thun, der ich die „Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen „lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur „von mir beſchloſſen werden.
Vielleicht halten viele davor, daß dieſes eben die rechte Schoͤnheit der vernuͤnftigen Poeſie ſey, gantz natuͤrlich zu re- den, und ſich von allen ſchwuͤlſtigen Redensarten zu enthal- ten. Allein wir wollen uns erſtlich erinnern, daß Horatz uns vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch uͤber allen Wolcken nach leerer Lufft zu ſchnappen; noch im Staube zu kriechen: ſondern die Mittelſtraße zu halten, und auf dem er- habenen Parnaß zu gehen befohlen.
Profeſſus grandia, turget; Serpit humi, tutus nimium timidusque procellae: In vitium ducit culpae fuga, ſi caret arte.
Vors andre iſt es laͤngſt auch von Rednern angemercket wor- den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verbluͤmte Re- densarten, ſo gar der ungebundnen Rede eine beſondre An- muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red-
ner
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0242"n="214"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Das <hirendition="#aq">VIII.</hi> Capitel</hi></fw><lb/><p>„Wer itzo in ſeinem gantzen Leben funfzig Jahre zuruͤ-<lb/>„ckelegen kan, dem ſcheinet es trefflich viel zu ſeyn. Die<lb/>„Welt nimmt alle Tage ab, und will uns faſt Abſchied geben.<lb/>„Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je kuͤrtzer wird auch das<lb/>„Ziel. Welchen GOtt derohalben mit dieſer Gnade ſegnet,<lb/>„daß er noch funfzig Jahre in ſeiner Ehe vollbringt, dem iſt<lb/>„ein ſolch Wunderwerck und Gluͤck wiederfahren, das kaum<lb/>„einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. ꝛc.</p><lb/><p>Nun moͤchte ich gern wiſſen, wo hier das poetiſche We-<lb/>ſen ſtecket; wo ſich der Geiſt und Witz eines Dichters gewie-<lb/>ſen habe? Alles dieſes hat meines Erachtens ein jeder den-<lb/>
cken und ſchreiben koͤnnen, der niemahls einen Poeten geſehen<lb/>
oder geleſen, ja kein Wort von Poeſie reden gehoͤrt. Jn der<lb/>
Beſſeriſchen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der<lb/>
gemeinſten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben-<lb/>
maaß und die Reime wegſchaffet.</p><lb/><p>„Daß auf Erden von den Menſchen Ehen vorgenommen<lb/>„werden, das kommt nicht vom Vorſatze der Menſchen her.<lb/>„Es iſt ein Werck Jupiters; Es iſt mein Thun, der ich die<lb/>„Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen<lb/>„lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur<lb/>„von mir beſchloſſen werden.</p><lb/><p>Vielleicht halten viele davor, daß dieſes eben die rechte<lb/>
Schoͤnheit der vernuͤnftigen Poeſie ſey, gantz natuͤrlich zu re-<lb/>
den, und ſich von allen ſchwuͤlſtigen Redensarten zu enthal-<lb/>
ten. Allein wir wollen uns erſtlich erinnern, daß Horatz uns<lb/>
vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch uͤber allen<lb/>
Wolcken nach leerer Lufft zu ſchnappen; noch im Staube zu<lb/>
kriechen: ſondern die Mittelſtraße zu halten, und auf dem er-<lb/>
habenen Parnaß zu gehen befohlen.</p><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#aq">Profeſſus grandia, turget;</hi></l><lb/><l><hirendition="#aq">Serpit humi, tutus nimium timidusque procellae:</hi></l><lb/><l><hirendition="#aq">In vitium ducit culpae fuga, ſi caret arte.</hi></l></lg><lb/><p>Vors andre iſt es laͤngſt auch von Rednern angemercket wor-<lb/>
den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verbluͤmte Re-<lb/>
densarten, ſo gar der ungebundnen Rede eine beſondre An-<lb/>
muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ner</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[214/0242]
Das VIII. Capitel
„Wer itzo in ſeinem gantzen Leben funfzig Jahre zuruͤ-
„ckelegen kan, dem ſcheinet es trefflich viel zu ſeyn. Die
„Welt nimmt alle Tage ab, und will uns faſt Abſchied geben.
„Jemehr die Jahrzahl zunimmt, je kuͤrtzer wird auch das
„Ziel. Welchen GOtt derohalben mit dieſer Gnade ſegnet,
„daß er noch funfzig Jahre in ſeiner Ehe vollbringt, dem iſt
„ein ſolch Wunderwerck und Gluͤck wiederfahren, das kaum
„einem unter hunderten halb zu gelingen pflegt. ꝛc.
Nun moͤchte ich gern wiſſen, wo hier das poetiſche We-
ſen ſtecket; wo ſich der Geiſt und Witz eines Dichters gewie-
ſen habe? Alles dieſes hat meines Erachtens ein jeder den-
cken und ſchreiben koͤnnen, der niemahls einen Poeten geſehen
oder geleſen, ja kein Wort von Poeſie reden gehoͤrt. Jn der
Beſſeriſchen Stelle redet der Gott Jupiter ebenfalls in der
gemeinſten Sprache, wenn man nur das klingende Sylben-
maaß und die Reime wegſchaffet.
„Daß auf Erden von den Menſchen Ehen vorgenommen
„werden, das kommt nicht vom Vorſatze der Menſchen her.
„Es iſt ein Werck Jupiters; Es iſt mein Thun, der ich die
„Welt regiere. Lernet ihr Sterblichen, daß ich die Hertzen
„lencke, und daß die Ehen auf Erden zwar vollzogen, aber nur
„von mir beſchloſſen werden.
Vielleicht halten viele davor, daß dieſes eben die rechte
Schoͤnheit der vernuͤnftigen Poeſie ſey, gantz natuͤrlich zu re-
den, und ſich von allen ſchwuͤlſtigen Redensarten zu enthal-
ten. Allein wir wollen uns erſtlich erinnern, daß Horatz uns
vor beyden Fehlern gewarnet, und weder zu hoch uͤber allen
Wolcken nach leerer Lufft zu ſchnappen; noch im Staube zu
kriechen: ſondern die Mittelſtraße zu halten, und auf dem er-
habenen Parnaß zu gehen befohlen.
Profeſſus grandia, turget;
Serpit humi, tutus nimium timidusque procellae:
In vitium ducit culpae fuga, ſi caret arte.
Vors andre iſt es laͤngſt auch von Rednern angemercket wor-
den, daß der uneigentliche Ausdruck durch verbluͤmte Re-
densarten, ſo gar der ungebundnen Rede eine beſondre An-
muth giebet. Cicero z. E. lehrt im dritten Buche vom Red-
ner
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/242>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.