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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das VII. Capitel
ein froher Schlummer, die kalten Schatten, ein frostig
Weh, der weiße Liebes-Schnee, keusche Lüste, die ge-
schloßne
Decke, ein starrer Leib, die geweyhten Anmuths-
Flammen, immerfrisches Oel, ein helles Tugendlicht,
u. s. w.

Bey dem allen fragt es sich, ob es angehenden Poeten zu
rathen sey, sich dergleichen schöne Beywörter und andre poe-
tische Redensarten zu sammlen, oder dieselben in gedruckten
Sammlungen nachzuschlagen und zu brauchen? Wir haben
eine Menge solcher Handbücher, die ich alle hier nahmhafft
machen wollte, wenn ich ihren Gebrauch vor nöthig hielte.
Zwar einem solchen Reimschmiede,

Der keine Griffe weiß, und mit dem Hübner spielt,
Und keinen Funcken Trieb in seinen Adern fühlt.

Wie Günther schreibt, thun dergleichen Bücher zuweilen
gute Dienste. Allein, das sind eben die Leute nicht, die dem
Vaterlande durch ihre Poesie Ehre bringen werden; und al-
so wäre es besser, daß man ihnen den Weg zum Reimen und
Sylbenhencken nicht erleichterte. Geistreiche Köpfe brau-
chen solche Gängelwägen nicht, ihre Muse zu leiten. Poeten
zu lesen, und bey ihren schönen Ausdrückungen den Witz, so
darinnen stecket, zu überdencken, das rücket uns freylich den
Kopf zurechte. Ein Feuer zündet das andre an, und man
wird selber allmählich geschickt guten Mustern zu folgen.
Allein ein Chaos von allerley zusammengestoppelten Blüm-
chen nachzuschlagen, und bey jeder Zeile, die man schreibt, ei-
nen poetischen Trichter in Händen zu haben, daraus man
Wörter sucht, Gedancken auszudrucken, die man noch nicht
hat: das heißt gewiß schlecht poetisiret. Gemeiniglich be-
kommt auch ein Beywort seine gantze Schönheit aus dem
Zusammenhange, darinn es stehet. Jn einer solchen
Schatz-Kammer aber findet man nichts als

Disjecti membra Poetae.
Hor.

Die verstümmelten Glieder eines zerrissenen Poeten; die
nunmehro dasjenige nicht mehr sind, was sie an ihrem rechten

Orte

Das VII. Capitel
ein froher Schlummer, die kalten Schatten, ein froſtig
Weh, der weiße Liebes-Schnee, keuſche Luͤſte, die ge-
ſchloßne
Decke, ein ſtarrer Leib, die geweyhten Anmuths-
Flammen, immerfriſches Oel, ein helles Tugendlicht,
u. ſ. w.

Bey dem allen fragt es ſich, ob es angehenden Poeten zu
rathen ſey, ſich dergleichen ſchoͤne Beywoͤrter und andre poe-
tiſche Redensarten zu ſammlen, oder dieſelben in gedruckten
Sammlungen nachzuſchlagen und zu brauchen? Wir haben
eine Menge ſolcher Handbuͤcher, die ich alle hier nahmhafft
machen wollte, wenn ich ihren Gebrauch vor noͤthig hielte.
Zwar einem ſolchen Reimſchmiede,

Der keine Griffe weiß, und mit dem Huͤbner ſpielt,
Und keinen Funcken Trieb in ſeinen Adern fuͤhlt.

Wie Guͤnther ſchreibt, thun dergleichen Buͤcher zuweilen
gute Dienſte. Allein, das ſind eben die Leute nicht, die dem
Vaterlande durch ihre Poeſie Ehre bringen werden; und al-
ſo waͤre es beſſer, daß man ihnen den Weg zum Reimen und
Sylbenhencken nicht erleichterte. Geiſtreiche Koͤpfe brau-
chen ſolche Gaͤngelwaͤgen nicht, ihre Muſe zu leiten. Poeten
zu leſen, und bey ihren ſchoͤnen Ausdruͤckungen den Witz, ſo
darinnen ſtecket, zu uͤberdencken, das ruͤcket uns freylich den
Kopf zurechte. Ein Feuer zuͤndet das andre an, und man
wird ſelber allmaͤhlich geſchickt guten Muſtern zu folgen.
Allein ein Chaos von allerley zuſammengeſtoppelten Bluͤm-
chen nachzuſchlagen, und bey jeder Zeile, die man ſchreibt, ei-
nen poetiſchen Trichter in Haͤnden zu haben, daraus man
Woͤrter ſucht, Gedancken auszudrucken, die man noch nicht
hat: das heißt gewiß ſchlecht poetiſiret. Gemeiniglich be-
kommt auch ein Beywort ſeine gantze Schoͤnheit aus dem
Zuſammenhange, darinn es ſtehet. Jn einer ſolchen
Schatz-Kammer aber findet man nichts als

Disjecti membra Poetae.
Hor.

Die verſtuͤmmelten Glieder eines zerriſſenen Poeten; die
nunmehro dasjenige nicht mehr ſind, was ſie an ihrem rechten

Orte
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[206/0234] Das VII. Capitel ein froher Schlummer, die kalten Schatten, ein froſtig Weh, der weiße Liebes-Schnee, keuſche Luͤſte, die ge- ſchloßne Decke, ein ſtarrer Leib, die geweyhten Anmuths- Flammen, immerfriſches Oel, ein helles Tugendlicht, u. ſ. w. Bey dem allen fragt es ſich, ob es angehenden Poeten zu rathen ſey, ſich dergleichen ſchoͤne Beywoͤrter und andre poe- tiſche Redensarten zu ſammlen, oder dieſelben in gedruckten Sammlungen nachzuſchlagen und zu brauchen? Wir haben eine Menge ſolcher Handbuͤcher, die ich alle hier nahmhafft machen wollte, wenn ich ihren Gebrauch vor noͤthig hielte. Zwar einem ſolchen Reimſchmiede, Der keine Griffe weiß, und mit dem Huͤbner ſpielt, Und keinen Funcken Trieb in ſeinen Adern fuͤhlt. Wie Guͤnther ſchreibt, thun dergleichen Buͤcher zuweilen gute Dienſte. Allein, das ſind eben die Leute nicht, die dem Vaterlande durch ihre Poeſie Ehre bringen werden; und al- ſo waͤre es beſſer, daß man ihnen den Weg zum Reimen und Sylbenhencken nicht erleichterte. Geiſtreiche Koͤpfe brau- chen ſolche Gaͤngelwaͤgen nicht, ihre Muſe zu leiten. Poeten zu leſen, und bey ihren ſchoͤnen Ausdruͤckungen den Witz, ſo darinnen ſtecket, zu uͤberdencken, das ruͤcket uns freylich den Kopf zurechte. Ein Feuer zuͤndet das andre an, und man wird ſelber allmaͤhlich geſchickt guten Muſtern zu folgen. Allein ein Chaos von allerley zuſammengeſtoppelten Bluͤm- chen nachzuſchlagen, und bey jeder Zeile, die man ſchreibt, ei- nen poetiſchen Trichter in Haͤnden zu haben, daraus man Woͤrter ſucht, Gedancken auszudrucken, die man noch nicht hat: das heißt gewiß ſchlecht poetiſiret. Gemeiniglich be- kommt auch ein Beywort ſeine gantze Schoͤnheit aus dem Zuſammenhange, darinn es ſtehet. Jn einer ſolchen Schatz-Kammer aber findet man nichts als Disjecti membra Poetae. Hor. Die verſtuͤmmelten Glieder eines zerriſſenen Poeten; die nunmehro dasjenige nicht mehr ſind, was ſie an ihrem rechten Orte

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/234>, abgerufen am 24.11.2024.