Die Raben-Mutter war ein unbewegter Stein, Es schien die harte Brust ein wilder Fels zu seyn, Der keine Fühlung hat.
Aus dieser einzigen Anmerckung wird man schon zur Gnüge die Regel abnehmen können; daß kein Beywort in der Poe- sie vergebens oder müßig da stehen müsse. Gantze Zeilen mit Beywörtern anzufüllen, die nichts oder doch sehr wenig zur Absicht des Poeten beytragen, zeigt keinen sonderlichen Ver- stand an. Ordentlich soll kein Wort mehr als ein Beywort haben, welches sich zur Sache schicket, und entweder zum Verstande unentbehrlich ist, oder doch einen besondern Zier- rath abgiebt, indem es eine angenehme Vorstellung bey dem Leser erweckt, dadurch er lebhaffter gerühret und desto mehr eingenommen wird. Das zeigt also mehrentheils eine Ar- muth an Gedancken, wenn man so lange allerley Beywörter zusammen raffet, bis ein gantzer, ja zuweilen wohl gar etliche Verße damit vollgestopfet worden. Wie würde das klingen?
Der große, gütige, gerechte, liebe GOtt, Kan böse, sündige, verderbte Menschen leiden etc.
Hiernechst sind die Beywörter entweder gemein, so daß sie einem jeden einfallen; oder neu und unvermuthet. Zum Exempel: Wenn einer ein Frauenzimmer schön nennet, so ist nichts gemeiner als dieß Beywort, obwohl die Sache so gemein nicht ist. Wenn aber Opitz ein paar von seinen Buhl- schafften beschreiben will, so hat er gantz andre Beywörter die er ihnen giebet.
Die sittsamen Geberden Die geile Höflichkeit, der abgeführte Sinn, Und was mich sonsten hielt, ist alles mit ihr hin. Dann hat mich endlich auch in Dacien gefangen, Die lange Vandala. Jtzt, da ich ihr entgangen. Und die Begierlichkeit mich wenig meistern kan; Steckt Flavia mich doch durch neues Feuer an. Die wilde Flavia, mit ihren schwarzen Augen.
Mich dünckt, ein jeder wird hier leicht gewahr werden, was diese so besondre Beywörter dem gantzen Verße vor einen ungemeinen Geist und Nachdruck geben: den sie von an-
dern
Das VII. Capitel
Oder:
Die Raben-Mutter war ein unbewegter Stein, Es ſchien die harte Bruſt ein wilder Fels zu ſeyn, Der keine Fuͤhlung hat.
Aus dieſer einzigen Anmerckung wird man ſchon zur Gnuͤge die Regel abnehmen koͤnnen; daß kein Beywort in der Poe- ſie vergebens oder muͤßig da ſtehen muͤſſe. Gantze Zeilen mit Beywoͤrtern anzufuͤllen, die nichts oder doch ſehr wenig zur Abſicht des Poeten beytragen, zeigt keinen ſonderlichen Ver- ſtand an. Ordentlich ſoll kein Wort mehr als ein Beywort haben, welches ſich zur Sache ſchicket, und entweder zum Verſtande unentbehrlich iſt, oder doch einen beſondern Zier- rath abgiebt, indem es eine angenehme Vorſtellung bey dem Leſer erweckt, dadurch er lebhaffter geruͤhret und deſto mehr eingenommen wird. Das zeigt alſo mehrentheils eine Ar- muth an Gedancken, wenn man ſo lange allerley Beywoͤrter zuſammen raffet, bis ein gantzer, ja zuweilen wohl gar etliche Verße damit vollgeſtopfet worden. Wie wuͤrde das klingen?
Der große, guͤtige, gerechte, liebe GOtt, Kan boͤſe, ſuͤndige, verderbte Menſchen leiden ꝛc.
Hiernechſt ſind die Beywoͤrter entweder gemein, ſo daß ſie einem jeden einfallen; oder neu und unvermuthet. Zum Exempel: Wenn einer ein Frauenzimmer ſchoͤn nennet, ſo iſt nichts gemeiner als dieß Beywort, obwohl die Sache ſo gemein nicht iſt. Wenn aber Opitz ein paar von ſeinen Buhl- ſchafften beſchreiben will, ſo hat er gantz andre Beywoͤrter die er ihnen giebet.
Die ſittſamen Geberden Die geile Hoͤflichkeit, der abgefuͤhrte Sinn, Und was mich ſonſten hielt, iſt alles mit ihr hin. Dann hat mich endlich auch in Dacien gefangen, Die lange Vandala. Jtzt, da ich ihr entgangen. Und die Begierlichkeit mich wenig meiſtern kan; Steckt Flavia mich doch durch neues Feuer an. Die wilde Flavia, mit ihren ſchwarzen Augen.
Mich duͤnckt, ein jeder wird hier leicht gewahr werden, was dieſe ſo beſondre Beywoͤrter dem gantzen Verße vor einen ungemeinen Geiſt und Nachdruck geben: den ſie von an-
dern
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Das VII. Capitel
Oder:
Die Raben-Mutter war ein unbewegter Stein,
Es ſchien die harte Bruſt ein wilder Fels zu ſeyn,
Der keine Fuͤhlung hat.
Aus dieſer einzigen Anmerckung wird man ſchon zur Gnuͤge
die Regel abnehmen koͤnnen; daß kein Beywort in der Poe-
ſie vergebens oder muͤßig da ſtehen muͤſſe. Gantze Zeilen mit
Beywoͤrtern anzufuͤllen, die nichts oder doch ſehr wenig zur
Abſicht des Poeten beytragen, zeigt keinen ſonderlichen Ver-
ſtand an. Ordentlich ſoll kein Wort mehr als ein Beywort
haben, welches ſich zur Sache ſchicket, und entweder zum
Verſtande unentbehrlich iſt, oder doch einen beſondern Zier-
rath abgiebt, indem es eine angenehme Vorſtellung bey dem
Leſer erweckt, dadurch er lebhaffter geruͤhret und deſto mehr
eingenommen wird. Das zeigt alſo mehrentheils eine Ar-
muth an Gedancken, wenn man ſo lange allerley Beywoͤrter
zuſammen raffet, bis ein gantzer, ja zuweilen wohl gar etliche
Verße damit vollgeſtopfet worden. Wie wuͤrde das klingen?
Der große, guͤtige, gerechte, liebe GOtt,
Kan boͤſe, ſuͤndige, verderbte Menſchen leiden ꝛc.
Hiernechſt ſind die Beywoͤrter entweder gemein, ſo daß ſie
einem jeden einfallen; oder neu und unvermuthet. Zum
Exempel: Wenn einer ein Frauenzimmer ſchoͤn nennet, ſo
iſt nichts gemeiner als dieß Beywort, obwohl die Sache ſo
gemein nicht iſt. Wenn aber Opitz ein paar von ſeinen Buhl-
ſchafften beſchreiben will, ſo hat er gantz andre Beywoͤrter
die er ihnen giebet.
Die ſittſamen Geberden
Die geile Hoͤflichkeit, der abgefuͤhrte Sinn,
Und was mich ſonſten hielt, iſt alles mit ihr hin.
Dann hat mich endlich auch in Dacien gefangen,
Die lange Vandala. Jtzt, da ich ihr entgangen.
Und die Begierlichkeit mich wenig meiſtern kan;
Steckt Flavia mich doch durch neues Feuer an.
Die wilde Flavia, mit ihren ſchwarzen Augen.
Mich duͤnckt, ein jeder wird hier leicht gewahr werden, was
dieſe ſo beſondre Beywoͤrter dem gantzen Verße vor einen
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/232>, abgerufen am 22.11.2024.
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