Die Beywörter bedeuten an sich theils die Eigenschaff- ten der Dinge, die ihnen allezeit beywohnen; theils auch nur die zufälligen Beschaffenheiten. Z. E. Die heiße Glut, der linde West. Da ist die Glut immer heiß, sowohl als das Wasser immer naß ist; der West-Wind aber ist nicht alle- zeit sanft, sondern auch zuweilen ungestüm. Nun fragt sichs, in welchen Fällen man jener oder dieser Art Beywörter brauchen müsse. Von der ersten Gattung könnte man den- cken, daß sie gantz überflüßig seyn würden; weil es nichts ge- sagt zu seyn scheinet, wenn man spricht, der runde Zirckel, die weiße Kreide, der harte Stein etc. Allein man betrügt sich: Ein Poet kan auch diese Art der Beywörter nicht ent- behren. Er will offt seinem Leser oder Zuhörer die Sachen von einer gewissen Seite zu betrachten geben. Sagte er nun den bloßen Nahmen derselben nur allein; so würde man zwar an die gantze Sache überhaupt, aber nicht an die Eigen- schafft ins besondre gedencken, die der Poet erwogen haben will: oder sich doch dieselbe nur dunckel vorstellen. Denn ein Ding hat viele Eigenschafften, die uns nur verwirrt in Gedancken schweben, wenn wir nichts als seinen Nahmen hören. Z. E. Der Stein ist dicht, hart, schwer, leicht, daur- hafft, lebloß, unbeweglich u. s. w. Weil aber in diesem oder jenem Falle der Leser seine Gedancken nur auf eine oder die andre Eigenschafft richten soll, um des Poeten Meynung zu verstehen: so muß ein Beywort dabey stehen, dadurch er da- zu veranlasset werden kan. Z. E.
Da steht er wie der todte Stein Jn den sich Loths Gemahl verkehret.
Oder;
Wenn Sysyphus den schweren Stein Mit hochbemühten Armen weltzet etc.
Oder:
Ein dichter Stein wird durch die Flammen Zu Kalck und Aschen ausgebrannt. etc.
Oder:
Schreibt sein Lob in festen Stahl Grabet es in harte Steine etc.
Oder:
Von poetiſchen Worten.
Die Beywoͤrter bedeuten an ſich theils die Eigenſchaff- ten der Dinge, die ihnen allezeit beywohnen; theils auch nur die zufaͤlligen Beſchaffenheiten. Z. E. Die heiße Glut, der linde Weſt. Da iſt die Glut immer heiß, ſowohl als das Waſſer immer naß iſt; der Weſt-Wind aber iſt nicht alle- zeit ſanft, ſondern auch zuweilen ungeſtuͤm. Nun fragt ſichs, in welchen Faͤllen man jener oder dieſer Art Beywoͤrter brauchen muͤſſe. Von der erſten Gattung koͤnnte man den- cken, daß ſie gantz uͤberfluͤßig ſeyn wuͤrden; weil es nichts ge- ſagt zu ſeyn ſcheinet, wenn man ſpricht, der runde Zirckel, die weiße Kreide, der harte Stein ꝛc. Allein man betruͤgt ſich: Ein Poet kan auch dieſe Art der Beywoͤrter nicht ent- behren. Er will offt ſeinem Leſer oder Zuhoͤrer die Sachen von einer gewiſſen Seite zu betrachten geben. Sagte er nun den bloßen Nahmen derſelben nur allein; ſo wuͤrde man zwar an die gantze Sache uͤberhaupt, aber nicht an die Eigen- ſchafft ins beſondre gedencken, die der Poet erwogen haben will: oder ſich doch dieſelbe nur dunckel vorſtellen. Denn ein Ding hat viele Eigenſchafften, die uns nur verwirrt in Gedancken ſchweben, wenn wir nichts als ſeinen Nahmen hoͤren. Z. E. Der Stein iſt dicht, hart, ſchwer, leicht, daur- hafft, lebloß, unbeweglich u. ſ. w. Weil aber in dieſem oder jenem Falle der Leſer ſeine Gedancken nur auf eine oder die andre Eigenſchafft richten ſoll, um des Poeten Meynung zu verſtehen: ſo muß ein Beywort dabey ſtehen, dadurch er da- zu veranlaſſet werden kan. Z. E.
Da ſteht er wie der todte Stein Jn den ſich Loths Gemahl verkehret.
Oder;
Wenn Syſyphus den ſchweren Stein Mit hochbemuͤhten Armen weltzet ꝛc.
Oder:
Ein dichter Stein wird durch die Flammen Zu Kalck und Aſchen ausgebrannt. ꝛc.
Oder:
Schreibt ſein Lob in feſten Stahl Grabet es in harte Steine ꝛc.
Oder:
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Von poetiſchen Worten.
Die Beywoͤrter bedeuten an ſich theils die Eigenſchaff-
ten der Dinge, die ihnen allezeit beywohnen; theils auch nur
die zufaͤlligen Beſchaffenheiten. Z. E. Die heiße Glut, der
linde Weſt. Da iſt die Glut immer heiß, ſowohl als das
Waſſer immer naß iſt; der Weſt-Wind aber iſt nicht alle-
zeit ſanft, ſondern auch zuweilen ungeſtuͤm. Nun fragt
ſichs, in welchen Faͤllen man jener oder dieſer Art Beywoͤrter
brauchen muͤſſe. Von der erſten Gattung koͤnnte man den-
cken, daß ſie gantz uͤberfluͤßig ſeyn wuͤrden; weil es nichts ge-
ſagt zu ſeyn ſcheinet, wenn man ſpricht, der runde Zirckel,
die weiße Kreide, der harte Stein ꝛc. Allein man betruͤgt
ſich: Ein Poet kan auch dieſe Art der Beywoͤrter nicht ent-
behren. Er will offt ſeinem Leſer oder Zuhoͤrer die Sachen
von einer gewiſſen Seite zu betrachten geben. Sagte er
nun den bloßen Nahmen derſelben nur allein; ſo wuͤrde man
zwar an die gantze Sache uͤberhaupt, aber nicht an die Eigen-
ſchafft ins beſondre gedencken, die der Poet erwogen haben
will: oder ſich doch dieſelbe nur dunckel vorſtellen. Denn
ein Ding hat viele Eigenſchafften, die uns nur verwirrt in
Gedancken ſchweben, wenn wir nichts als ſeinen Nahmen
hoͤren. Z. E. Der Stein iſt dicht, hart, ſchwer, leicht, daur-
hafft, lebloß, unbeweglich u. ſ. w. Weil aber in dieſem oder
jenem Falle der Leſer ſeine Gedancken nur auf eine oder die
andre Eigenſchafft richten ſoll, um des Poeten Meynung zu
verſtehen: ſo muß ein Beywort dabey ſtehen, dadurch er da-
zu veranlaſſet werden kan. Z. E.
Da ſteht er wie der todte Stein
Jn den ſich Loths Gemahl verkehret.
Oder;
Wenn Syſyphus den ſchweren Stein
Mit hochbemuͤhten Armen weltzet ꝛc.
Oder:
Ein dichter Stein wird durch die Flammen
Zu Kalck und Aſchen ausgebrannt. ꝛc.
Oder:
Schreibt ſein Lob in feſten Stahl
Grabet es in harte Steine ꝛc.
Oder:
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/231>, abgerufen am 22.11.2024.
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