Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Vorrede. vorher sehe; wird die Worte betreffen, darinn ich sage, daßdas Wesen der Poesie überhaupt, und ihrer fürnehmsten Gattungen, in der vernünftigen Nachahmung der Natur bestehe. Jch weiß, wie schwer dieses allen denjenigen ein- gehet, welche die Versmacher-Kunst und Poesie vor ei- nerley ansehen; die von keinem Prosaischen Gedichte, und von keiner gereimten Prosa was hören wollen: ungeach- tet beydes so gemein ist, als was seyn kan. Was mich aber bisher gegen alle Wiedersprüche von dieser Seite in Si- cherheit gesetzet hat, ist dieses, daß alle meine Gegner von der Gattung niemahls eine einzige Critische Schrifft der alten oder neuern gelesen. Jch bitte also meine Leser sich nicht zu übereilen, sondern erst das Buch selbst, oder zum wenigsten die ersten sechs Capitel zu lesen, und alles wohl zu überlegen. Jch würde mich bey Verständigen aus- lachenswürdig gemacht haben, wenn ich die Poesie in der Kunst zu scandiren oder zu reimen gesucht hätte. Fran- zosen und Jtaliener thun das erste nicht, und haben doch Poesien die Menge. Die Engelländer schreiben so wohl als die alten Griechen und Römer, gantze Helden-Gedich- te ohne Reime: wer will ihnen aber die Poesie abspre- chen? Alle Romane sind weder um das Sylbenmaßes noch des Reimes wegen, sondern bloß um der Fabel hal- ber zur Poesie zu rechnen. Aristoteles hat auch ausdrück- lich gesagt: Die Epopee könne in beyderley Schreibart abgefasset werden und doch ein Gedichte bleiben; herge- gen Empedocles sey ein Naturlehrer, aber kein Poet zu nennen, ob er gleich ein groß Buch in Alexandrinischen Versen geschrieben. Eben dieser grosse Criticus hat aus- führlich dargethan, daß ein Poet so wohl als ein Mahler und Bildschnitzer ein Nachahmer der Natur sey; und eine Sache entweder so wie sie ist, oder gewesen; oder wie sie zu seyn ** 2
Vorrede. vorher ſehe; wird die Worte betreffen, darinn ich ſage, daßdas Weſen der Poeſie uͤberhaupt, und ihrer fuͤrnehmſten Gattungen, in der vernuͤnftigen Nachahmung der Natur beſtehe. Jch weiß, wie ſchwer dieſes allen denjenigen ein- gehet, welche die Versmacher-Kunſt und Poeſie vor ei- nerley anſehen; die von keinem Proſaiſchen Gedichte, und von keiner gereimten Proſa was hoͤren wollen: ungeach- tet beydes ſo gemein iſt, als was ſeyn kan. Was mich aber bisher gegen alle Wiederſpruͤche von dieſer Seite in Si- cherheit geſetzet hat, iſt dieſes, daß alle meine Gegner von der Gattung niemahls eine einzige Critiſche Schrifft der alten oder neuern geleſen. Jch bitte alſo meine Leſer ſich nicht zu uͤbereilen, ſondern erſt das Buch ſelbſt, oder zum wenigſten die erſten ſechs Capitel zu leſen, und alles wohl zu uͤberlegen. Jch wuͤrde mich bey Verſtaͤndigen aus- lachenswuͤrdig gemacht haben, wenn ich die Poeſie in der Kunſt zu ſcandiren oder zu reimen geſucht haͤtte. Fran- zoſen und Jtaliener thun das erſte nicht, und haben doch Poeſien die Menge. Die Engellaͤnder ſchreiben ſo wohl als die alten Griechen und Roͤmer, gantze Helden-Gedich- te ohne Reime: wer will ihnen aber die Poeſie abſpre- chen? Alle Romane ſind weder um das Sylbenmaßes noch des Reimes wegen, ſondern bloß um der Fabel hal- ber zur Poeſie zu rechnen. Ariſtoteles hat auch ausdruͤck- lich geſagt: Die Epopee koͤnne in beyderley Schreibart abgefaſſet werden und doch ein Gedichte bleiben; herge- gen Empedocles ſey ein Naturlehrer, aber kein Poet zu nennen, ob er gleich ein groß Buch in Alexandriniſchen Verſen geſchrieben. Eben dieſer groſſe Criticus hat aus- fuͤhrlich dargethan, daß ein Poet ſo wohl als ein Mahler und Bildſchnitzer ein Nachahmer der Natur ſey; und eine Sache entweder ſo wie ſie iſt, oder geweſen; oder wie ſie zu ſeyn ** 2
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Vorrede.
vorher ſehe; wird die Worte betreffen, darinn ich ſage, daß
das Weſen der Poeſie uͤberhaupt, und ihrer fuͤrnehmſten
Gattungen, in der vernuͤnftigen Nachahmung der Natur
beſtehe. Jch weiß, wie ſchwer dieſes allen denjenigen ein-
gehet, welche die Versmacher-Kunſt und Poeſie vor ei-
nerley anſehen; die von keinem Proſaiſchen Gedichte, und
von keiner gereimten Proſa was hoͤren wollen: ungeach-
tet beydes ſo gemein iſt, als was ſeyn kan. Was mich aber
bisher gegen alle Wiederſpruͤche von dieſer Seite in Si-
cherheit geſetzet hat, iſt dieſes, daß alle meine Gegner von
der Gattung niemahls eine einzige Critiſche Schrifft der
alten oder neuern geleſen. Jch bitte alſo meine Leſer ſich
nicht zu uͤbereilen, ſondern erſt das Buch ſelbſt, oder zum
wenigſten die erſten ſechs Capitel zu leſen, und alles wohl
zu uͤberlegen. Jch wuͤrde mich bey Verſtaͤndigen aus-
lachenswuͤrdig gemacht haben, wenn ich die Poeſie in der
Kunſt zu ſcandiren oder zu reimen geſucht haͤtte. Fran-
zoſen und Jtaliener thun das erſte nicht, und haben doch
Poeſien die Menge. Die Engellaͤnder ſchreiben ſo wohl
als die alten Griechen und Roͤmer, gantze Helden-Gedich-
te ohne Reime: wer will ihnen aber die Poeſie abſpre-
chen? Alle Romane ſind weder um das Sylbenmaßes
noch des Reimes wegen, ſondern bloß um der Fabel hal-
ber zur Poeſie zu rechnen. Ariſtoteles hat auch ausdruͤck-
lich geſagt: Die Epopee koͤnne in beyderley Schreibart
abgefaſſet werden und doch ein Gedichte bleiben; herge-
gen Empedocles ſey ein Naturlehrer, aber kein Poet zu
nennen, ob er gleich ein groß Buch in Alexandriniſchen
Verſen geſchrieben. Eben dieſer groſſe Criticus hat aus-
fuͤhrlich dargethan, daß ein Poet ſo wohl als ein Mahler
und Bildſchnitzer ein Nachahmer der Natur ſey; und eine
Sache entweder ſo wie ſie iſt, oder geweſen; oder wie ſie zu
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