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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Worten.
Je! daß ich doch so schreib! Dies Elend ist entsprungen,
Vom guten Vorsatz her, weil man mit fremden Zungen,
Die edle Muttersprach zu schänden aufgehört,
Und unsre Deutschen hat das reine Deutsch gelehrt.

Aus dem allen erhellet deutlich genug, daß man sich vor der-
gleichen neuen Wörtern soviel möglich, zu hüten habe. Un-
sre Sprache ist an sich selbst reich genug. Wir könnten zur
Noth andern Völckern eine Menge der besten Ausdrückun-
gen abtreten, und würden doch keinen Mangel leiden dörfen.
Man kan auch alle seine Gedancken gar leicht mit üblichen
und gewöhnlichen Redensarten zu verstehen geben, wenn
man nur will, und fleißig die besten deutschen Scribenten ge-
lesen hat. Die Begierde, unsre Mundart zu bereichern,
macht einen offt unverständlich und rauhe: offtmahls auch
gar lächerlich. Hierinn habens auch wohl große Männer
versehen. Z. E. Bessern, der doch sonst so bescheiden in seinen
Ausdrückungen ist, ist doch einmahl der seltsame Vers ent-
fahren, der eben von keinem guten Geschmacke zeiget:

Der Sonnen-gierige Benister hoher Hügel,
Der Adler - - -

Wer solte sichs wohl einbilden, daß dieses einen Adler bedeu-
tet, wenn ers nicht selbst dazu gesetzet hätte? Aber wer hätte
es auch geglaubt, daß diese Zeilen aus seiner Feder geflossen?
Gleichwohl steht sie p. 19. seiner Gedichte. Dergleichen
Exempel müssen uns behutsam machen.

Doch kan man einem deutschen Poeten freylich nicht alle
neue Wörter verbieten. Das hieße seinem Pegasus die
Flügel gar zu kurtz verschneiden, wenn er allezeit bey der ge-
wöhnlichsten Art zu schreiben bleiben müste. Eine edle
Kühnheit steht ihm zuweilen sehr wohl an, und gewisse gram-
matische Verwegenheiten gerathen manchem sowohl, daß
man eine besondre Schönheit darinnen findet. Doch ist
nicht ein jeder so glücklich, daß er Beyfall damit verdienet;
weil nicht ein jeder ein so zärtliches Gehör hat, das leidliche
von dem unerträglichen zu unterscheiden. Es ist hier mit
unsern Poeten so, wie mit den lateinischen. Plautus
und Lucretius haben sich in diesem Stücke sehr vergangen;

Vir-
N 4
Von poetiſchen Worten.
Je! daß ich doch ſo ſchreib! Dies Elend iſt entſprungen,
Vom guten Vorſatz her, weil man mit fremden Zungen,
Die edle Mutterſprach zu ſchaͤnden aufgehoͤrt,
Und unſre Deutſchen hat das reine Deutſch gelehrt.

Aus dem allen erhellet deutlich genug, daß man ſich vor der-
gleichen neuen Woͤrtern ſoviel moͤglich, zu huͤten habe. Un-
ſre Sprache iſt an ſich ſelbſt reich genug. Wir koͤnnten zur
Noth andern Voͤlckern eine Menge der beſten Ausdruͤckun-
gen abtreten, und wuͤrden doch keinen Mangel leiden doͤrfen.
Man kan auch alle ſeine Gedancken gar leicht mit uͤblichen
und gewoͤhnlichen Redensarten zu verſtehen geben, wenn
man nur will, und fleißig die beſten deutſchen Scribenten ge-
leſen hat. Die Begierde, unſre Mundart zu bereichern,
macht einen offt unverſtaͤndlich und rauhe: offtmahls auch
gar laͤcherlich. Hierinn habens auch wohl große Maͤnner
verſehen. Z. E. Beſſern, der doch ſonſt ſo beſcheiden in ſeinen
Ausdruͤckungen iſt, iſt doch einmahl der ſeltſame Vers ent-
fahren, der eben von keinem guten Geſchmacke zeiget:

Der Sonnen-gierige Beniſter hoher Huͤgel,
Der Adler ‒ ‒ ‒

Wer ſolte ſichs wohl einbilden, daß dieſes einen Adler bedeu-
tet, wenn ers nicht ſelbſt dazu geſetzet haͤtte? Aber wer haͤtte
es auch geglaubt, daß dieſe Zeilen aus ſeiner Feder gefloſſen?
Gleichwohl ſteht ſie p. 19. ſeiner Gedichte. Dergleichen
Exempel muͤſſen uns behutſam machen.

Doch kan man einem deutſchen Poeten freylich nicht alle
neue Woͤrter verbieten. Das hieße ſeinem Pegaſus die
Fluͤgel gar zu kurtz verſchneiden, wenn er allezeit bey der ge-
woͤhnlichſten Art zu ſchreiben bleiben muͤſte. Eine edle
Kuͤhnheit ſteht ihm zuweilen ſehr wohl an, und gewiſſe gram-
matiſche Verwegenheiten gerathen manchem ſowohl, daß
man eine beſondre Schoͤnheit darinnen findet. Doch iſt
nicht ein jeder ſo gluͤcklich, daß er Beyfall damit verdienet;
weil nicht ein jeder ein ſo zaͤrtliches Gehoͤr hat, das leidliche
von dem unertraͤglichen zu unterſcheiden. Es iſt hier mit
unſern Poeten ſo, wie mit den lateiniſchen. Plautus
und Lucretius haben ſich in dieſem Stuͤcke ſehr vergangen;

Vir-
N 4
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[199/0227] Von poetiſchen Worten. Je! daß ich doch ſo ſchreib! Dies Elend iſt entſprungen, Vom guten Vorſatz her, weil man mit fremden Zungen, Die edle Mutterſprach zu ſchaͤnden aufgehoͤrt, Und unſre Deutſchen hat das reine Deutſch gelehrt. Aus dem allen erhellet deutlich genug, daß man ſich vor der- gleichen neuen Woͤrtern ſoviel moͤglich, zu huͤten habe. Un- ſre Sprache iſt an ſich ſelbſt reich genug. Wir koͤnnten zur Noth andern Voͤlckern eine Menge der beſten Ausdruͤckun- gen abtreten, und wuͤrden doch keinen Mangel leiden doͤrfen. Man kan auch alle ſeine Gedancken gar leicht mit uͤblichen und gewoͤhnlichen Redensarten zu verſtehen geben, wenn man nur will, und fleißig die beſten deutſchen Scribenten ge- leſen hat. Die Begierde, unſre Mundart zu bereichern, macht einen offt unverſtaͤndlich und rauhe: offtmahls auch gar laͤcherlich. Hierinn habens auch wohl große Maͤnner verſehen. Z. E. Beſſern, der doch ſonſt ſo beſcheiden in ſeinen Ausdruͤckungen iſt, iſt doch einmahl der ſeltſame Vers ent- fahren, der eben von keinem guten Geſchmacke zeiget: Der Sonnen-gierige Beniſter hoher Huͤgel, Der Adler ‒ ‒ ‒ Wer ſolte ſichs wohl einbilden, daß dieſes einen Adler bedeu- tet, wenn ers nicht ſelbſt dazu geſetzet haͤtte? Aber wer haͤtte es auch geglaubt, daß dieſe Zeilen aus ſeiner Feder gefloſſen? Gleichwohl ſteht ſie p. 19. ſeiner Gedichte. Dergleichen Exempel muͤſſen uns behutſam machen. Doch kan man einem deutſchen Poeten freylich nicht alle neue Woͤrter verbieten. Das hieße ſeinem Pegaſus die Fluͤgel gar zu kurtz verſchneiden, wenn er allezeit bey der ge- woͤhnlichſten Art zu ſchreiben bleiben muͤſte. Eine edle Kuͤhnheit ſteht ihm zuweilen ſehr wohl an, und gewiſſe gram- matiſche Verwegenheiten gerathen manchem ſowohl, daß man eine beſondre Schoͤnheit darinnen findet. Doch iſt nicht ein jeder ſo gluͤcklich, daß er Beyfall damit verdienet; weil nicht ein jeder ein ſo zaͤrtliches Gehoͤr hat, das leidliche von dem unertraͤglichen zu unterſcheiden. Es iſt hier mit unſern Poeten ſo, wie mit den lateiniſchen. Plautus und Lucretius haben ſich in dieſem Stuͤcke ſehr vergangen; Vir- N 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/227>, abgerufen am 22.11.2024.