mert haben werde. Doch er fährt fort zu fragen, ob denn aus der Anzahl der Gefehrten, die bey dem erschlagenen Kö- nige gewesen, niemand wieder zurücke gekommen? Einer der wircklich mit zugegen gewesen, giebt zur Antwort, daß es von einer Menge von Straßen-Räubern geschehen; da es doch von einer einzigen Person, nehmlich vom Oedipus selbst, ge- schehen war. Wie war das möglich, eine so falsche Antwort zu geben, da man bey Entdeckung der Wahrheit nicht das Geringste zu besorgen hatte? Oedipus vernimmt endlich, daß Phorbas, einer von den damahligen Gefehrten des Lajus noch lebe; und von diesem hätte er leicht völlige Nachricht einziehen können: Allein er läßt ihn, wieder alles Vermu- then, nicht einmahl zu sich fordern. Auch der Chor, der ihm allezeit Anschläge giebt, denckt nicht daran, sondern räth ihm, lieber den Tiresias fordern zu lassen. Endlich in der vierten Handlung kommt Phorbas. Ohne Zweifel denckt man hier, Oedipus werde ihn mit großer Ungedult fragen, wie es mit dem Tode des Königes bewandt gewesen; weil er so begierig war, seinem Volcke zu helfen. Aber nichts weni- ger als das. Die Tragödie endigt sich, ehe Phorbas ein Wort von dem Tode seines Herrn zu reden bekommen.
Dieß mag zu einer Probe genug seyn, daß Sophocles die Wahrscheinlichkeit nicht genau beobachtet habe. Wer sich ausführlicher darum bekümmern will, kan die Critique nachlesen, die Voltaire über die drey Oedipos, nehmlich den griechischen, des Corneille französischen, und seinen eigenen gemacht. Jmgleichen kan man die Critik über den Cid, von der französischen Academie in dieser Absicht zu rathe ziehen. Die Liebhaber der Opern mögen St. Evremonts Gedancken darüber nachschlagen; und überhaupt von Theatralischen Poesien kan man auch lesen was Cervantes im Don Quixo- te, einen gewissen Canonicum davon hat sagen lassen. Die Wahrscheinlichkeit in Schäfergedichten anlangend, darf man nur Fontenellens Discours, imgleichen den Guardian davon besehen. Die Satire betreffend, sehe man Mu- ralts Briefe über die Franzosen nach, wo er des Boileau seine Satire über Paris untersuchet hat.
Jch
Das VI. Capitel
mert haben werde. Doch er faͤhrt fort zu fragen, ob denn aus der Anzahl der Gefehrten, die bey dem erſchlagenen Koͤ- nige geweſen, niemand wieder zuruͤcke gekommen? Einer der wircklich mit zugegen geweſen, giebt zur Antwort, daß es von einer Menge von Straßen-Raͤubern geſchehen; da es doch von einer einzigen Perſon, nehmlich vom Oedipus ſelbſt, ge- ſchehen war. Wie war das moͤglich, eine ſo falſche Antwort zu geben, da man bey Entdeckung der Wahrheit nicht das Geringſte zu beſorgen hatte? Oedipus vernimmt endlich, daß Phorbas, einer von den damahligen Gefehrten des Lajus noch lebe; und von dieſem haͤtte er leicht voͤllige Nachricht einziehen koͤnnen: Allein er laͤßt ihn, wieder alles Vermu- then, nicht einmahl zu ſich fordern. Auch der Chor, der ihm allezeit Anſchlaͤge giebt, denckt nicht daran, ſondern raͤth ihm, lieber den Tireſias fordern zu laſſen. Endlich in der vierten Handlung kommt Phorbas. Ohne Zweifel denckt man hier, Oedipus werde ihn mit großer Ungedult fragen, wie es mit dem Tode des Koͤniges bewandt geweſen; weil er ſo begierig war, ſeinem Volcke zu helfen. Aber nichts weni- ger als das. Die Tragoͤdie endigt ſich, ehe Phorbas ein Wort von dem Tode ſeines Herrn zu reden bekommen.
Dieß mag zu einer Probe genug ſeyn, daß Sophocles die Wahrſcheinlichkeit nicht genau beobachtet habe. Wer ſich ausfuͤhrlicher darum bekuͤmmern will, kan die Critique nachleſen, die Voltaire uͤber die drey Oedipos, nehmlich den griechiſchen, des Corneille franzoͤſiſchen, und ſeinen eigenen gemacht. Jmgleichen kan man die Critik uͤber den Cid, von der franzoͤſiſchen Academie in dieſer Abſicht zu rathe ziehen. Die Liebhaber der Opern moͤgen St. Evremonts Gedancken daruͤber nachſchlagen; und uͤberhaupt von Theatraliſchen Poeſien kan man auch leſen was Cervantes im Don Quixo- te, einen gewiſſen Canonicum davon hat ſagen laſſen. Die Wahrſcheinlichkeit in Schaͤfergedichten anlangend, darf man nur Fontenellens Diſcours, imgleichen den Guardian davon beſehen. Die Satire betreffend, ſehe man Mu- ralts Briefe uͤber die Franzoſen nach, wo er des Boileau ſeine Satire uͤber Paris unterſuchet hat.
Jch
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[184/0212]
Das VI. Capitel
mert haben werde. Doch er faͤhrt fort zu fragen, ob denn
aus der Anzahl der Gefehrten, die bey dem erſchlagenen Koͤ-
nige geweſen, niemand wieder zuruͤcke gekommen? Einer der
wircklich mit zugegen geweſen, giebt zur Antwort, daß es von
einer Menge von Straßen-Raͤubern geſchehen; da es doch
von einer einzigen Perſon, nehmlich vom Oedipus ſelbſt, ge-
ſchehen war. Wie war das moͤglich, eine ſo falſche Antwort
zu geben, da man bey Entdeckung der Wahrheit nicht das
Geringſte zu beſorgen hatte? Oedipus vernimmt endlich,
daß Phorbas, einer von den damahligen Gefehrten des Lajus
noch lebe; und von dieſem haͤtte er leicht voͤllige Nachricht
einziehen koͤnnen: Allein er laͤßt ihn, wieder alles Vermu-
then, nicht einmahl zu ſich fordern. Auch der Chor, der ihm
allezeit Anſchlaͤge giebt, denckt nicht daran, ſondern raͤth
ihm, lieber den Tireſias fordern zu laſſen. Endlich in der
vierten Handlung kommt Phorbas. Ohne Zweifel denckt
man hier, Oedipus werde ihn mit großer Ungedult fragen,
wie es mit dem Tode des Koͤniges bewandt geweſen; weil er
ſo begierig war, ſeinem Volcke zu helfen. Aber nichts weni-
ger als das. Die Tragoͤdie endigt ſich, ehe Phorbas ein
Wort von dem Tode ſeines Herrn zu reden bekommen.
Dieß mag zu einer Probe genug ſeyn, daß Sophocles
die Wahrſcheinlichkeit nicht genau beobachtet habe. Wer
ſich ausfuͤhrlicher darum bekuͤmmern will, kan die Critique
nachleſen, die Voltaire uͤber die drey Oedipos, nehmlich den
griechiſchen, des Corneille franzoͤſiſchen, und ſeinen eigenen
gemacht. Jmgleichen kan man die Critik uͤber den Cid, von
der franzoͤſiſchen Academie in dieſer Abſicht zu rathe ziehen.
Die Liebhaber der Opern moͤgen St. Evremonts Gedancken
daruͤber nachſchlagen; und uͤberhaupt von Theatraliſchen
Poeſien kan man auch leſen was Cervantes im Don Quixo-
te, einen gewiſſen Canonicum davon hat ſagen laſſen. Die
Wahrſcheinlichkeit in Schaͤfergedichten anlangend, darf
man nur Fontenellens Diſcours, imgleichen den Guardian
davon beſehen. Die Satire betreffend, ſehe man Mu-
ralts Briefe uͤber die Franzoſen nach, wo er des Boileau ſeine
Satire uͤber Paris unterſuchet hat.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/212>, abgerufen am 16.02.2025.
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