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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie.
gensinne herleitet, ihm einen baldigen Untergang drohet:
Ob ein solcher Prophet ein göttlicher Prophet seyn könne;
das mögen alle Protestanten, davon halb Europa voll ist,
selbst bedencken. Gleichwohl verkündiget unser Einsiedler
alles vorher, als ob er die Geschichte Heinrichs des vierten
schon zum voraus gelesen hätte. Man darf hier nicht sagen,
es könne von einem Catholischen Poeten nicht gefordert wer-
den, daß er als ein Protestant schreiben solle. Jn Franck-
reich werde dieser Eremit wahrscheinlich genug seyn. etc. Jch
antworte: Voltaire hat in so vielen Stellen seines Gedich-
tes, welches gewiß viel zu der Schönheit desselben mit bey-
trage, genugsam zu verstehen gegeben, daß er kein so blinder
Papist sey als mancher wohl dencken möchte. Hat er nun
selbst das Hertz gehabt, viel Sätze einfließen zu lassen, die sei-
nen Religions-Verwandten so sehr mißfallen haben, daß er
das Land deswegen räumen müssen: Warum hat er nicht
vollends diesen Einsiedler, der doch eine Creatur seiner Ein-
bildungs-Krafft ist, so gebildet, daß er überall und nicht nur
in Franckreich wahrscheinlich heraus gekommen?

Jch komme auf die Hexerey der Verschwornen, die er
im fünften Buche seines Gedichtes beschrieben; und davon
schon oben gedacht worden. Es ist wahr, daß die Königin
von Medicis eine Liebhaberin der Zauberkunst gewesen, und
es kan seyn, daß ihr Exempel viele ihrer Unterthanen nach
sich gezogen. Es ließe sich daher auch mit einiger Wahr-
scheinlichkeit dichten, die sechzehn Häupter der Rebellen hät-
ten zu einem Schwartzkünstler ihre Zuflucht genommen, um
das Schicksal ihres Reiches zu erfahren. Dies finstre un-
terirrdische Gewölbe, alle die abergläubischen Zurüstungen
der jüdischen Hexenmeister, kurtz, alles was vorhergeht, und
sich bloß auf die thörichte Fantasie der Menschen gründet, ist
in meinen Augen nicht unwahrscheinlich. Aber daß der Poet
auf eine so verdammliche Begierde das Künftige zu wissen,
auf solche Gotteslästerliche und ruchlose Beschwerungen,
und Zauberformeln, eine Erhörung ihres Wunsches erfol-
gen läst, das kan ich ihm nicht vergeben. GOtt bestärcket
diese aberglaubische Rotte in ihrer Thorheit. Was der

Zaubrer
M 3

Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
genſinne herleitet, ihm einen baldigen Untergang drohet:
Ob ein ſolcher Prophet ein goͤttlicher Prophet ſeyn koͤnne;
das moͤgen alle Proteſtanten, davon halb Europa voll iſt,
ſelbſt bedencken. Gleichwohl verkuͤndiget unſer Einſiedler
alles vorher, als ob er die Geſchichte Heinrichs des vierten
ſchon zum voraus geleſen haͤtte. Man darf hier nicht ſagen,
es koͤnne von einem Catholiſchen Poeten nicht gefordert wer-
den, daß er als ein Proteſtant ſchreiben ſolle. Jn Franck-
reich werde dieſer Eremit wahrſcheinlich genug ſeyn. ꝛc. Jch
antworte: Voltaire hat in ſo vielen Stellen ſeines Gedich-
tes, welches gewiß viel zu der Schoͤnheit deſſelben mit bey-
trage, genugſam zu verſtehen gegeben, daß er kein ſo blinder
Papiſt ſey als mancher wohl dencken moͤchte. Hat er nun
ſelbſt das Hertz gehabt, viel Saͤtze einfließen zu laſſen, die ſei-
nen Religions-Verwandten ſo ſehr mißfallen haben, daß er
das Land deswegen raͤumen muͤſſen: Warum hat er nicht
vollends dieſen Einſiedler, der doch eine Creatur ſeiner Ein-
bildungs-Krafft iſt, ſo gebildet, daß er uͤberall und nicht nur
in Franckreich wahrſcheinlich heraus gekommen?

Jch komme auf die Hexerey der Verſchwornen, die er
im fuͤnften Buche ſeines Gedichtes beſchrieben; und davon
ſchon oben gedacht worden. Es iſt wahr, daß die Koͤnigin
von Medicis eine Liebhaberin der Zauberkunſt geweſen, und
es kan ſeyn, daß ihr Exempel viele ihrer Unterthanen nach
ſich gezogen. Es ließe ſich daher auch mit einiger Wahr-
ſcheinlichkeit dichten, die ſechzehn Haͤupter der Rebellen haͤt-
ten zu einem Schwartzkuͤnſtler ihre Zuflucht genommen, um
das Schickſal ihres Reiches zu erfahren. Dies finſtre un-
terirrdiſche Gewoͤlbe, alle die aberglaͤubiſchen Zuruͤſtungen
der juͤdiſchen Hexenmeiſter, kurtz, alles was vorhergeht, und
ſich bloß auf die thoͤrichte Fantaſie der Menſchen gruͤndet, iſt
in meinen Augen nicht unwahrſcheinlich. Aber daß der Poet
auf eine ſo verdammliche Begierde das Kuͤnftige zu wiſſen,
auf ſolche Gotteslaͤſterliche und ruchloſe Beſchwerungen,
und Zauberformeln, eine Erhoͤrung ihres Wunſches erfol-
gen laͤſt, das kan ich ihm nicht vergeben. GOtt beſtaͤrcket
dieſe aberglaubiſche Rotte in ihrer Thorheit. Was der

Zaubrer
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[181/0209] Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. genſinne herleitet, ihm einen baldigen Untergang drohet: Ob ein ſolcher Prophet ein goͤttlicher Prophet ſeyn koͤnne; das moͤgen alle Proteſtanten, davon halb Europa voll iſt, ſelbſt bedencken. Gleichwohl verkuͤndiget unſer Einſiedler alles vorher, als ob er die Geſchichte Heinrichs des vierten ſchon zum voraus geleſen haͤtte. Man darf hier nicht ſagen, es koͤnne von einem Catholiſchen Poeten nicht gefordert wer- den, daß er als ein Proteſtant ſchreiben ſolle. Jn Franck- reich werde dieſer Eremit wahrſcheinlich genug ſeyn. ꝛc. Jch antworte: Voltaire hat in ſo vielen Stellen ſeines Gedich- tes, welches gewiß viel zu der Schoͤnheit deſſelben mit bey- trage, genugſam zu verſtehen gegeben, daß er kein ſo blinder Papiſt ſey als mancher wohl dencken moͤchte. Hat er nun ſelbſt das Hertz gehabt, viel Saͤtze einfließen zu laſſen, die ſei- nen Religions-Verwandten ſo ſehr mißfallen haben, daß er das Land deswegen raͤumen muͤſſen: Warum hat er nicht vollends dieſen Einſiedler, der doch eine Creatur ſeiner Ein- bildungs-Krafft iſt, ſo gebildet, daß er uͤberall und nicht nur in Franckreich wahrſcheinlich heraus gekommen? Jch komme auf die Hexerey der Verſchwornen, die er im fuͤnften Buche ſeines Gedichtes beſchrieben; und davon ſchon oben gedacht worden. Es iſt wahr, daß die Koͤnigin von Medicis eine Liebhaberin der Zauberkunſt geweſen, und es kan ſeyn, daß ihr Exempel viele ihrer Unterthanen nach ſich gezogen. Es ließe ſich daher auch mit einiger Wahr- ſcheinlichkeit dichten, die ſechzehn Haͤupter der Rebellen haͤt- ten zu einem Schwartzkuͤnſtler ihre Zuflucht genommen, um das Schickſal ihres Reiches zu erfahren. Dies finſtre un- terirrdiſche Gewoͤlbe, alle die aberglaͤubiſchen Zuruͤſtungen der juͤdiſchen Hexenmeiſter, kurtz, alles was vorhergeht, und ſich bloß auf die thoͤrichte Fantaſie der Menſchen gruͤndet, iſt in meinen Augen nicht unwahrſcheinlich. Aber daß der Poet auf eine ſo verdammliche Begierde das Kuͤnftige zu wiſſen, auf ſolche Gotteslaͤſterliche und ruchloſe Beſchwerungen, und Zauberformeln, eine Erhoͤrung ihres Wunſches erfol- gen laͤſt, das kan ich ihm nicht vergeben. GOtt beſtaͤrcket dieſe aberglaubiſche Rotte in ihrer Thorheit. Was der Zaubrer M 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/209>, abgerufen am 22.11.2024.