Monden thun müsse. Astolph bedencket sich nicht lange, seine irrende Ritterschafft, auch außer der Erdkugel fortzusetzen, und alsbald ist ein feuriger Wagen da, der den Apostel und Ritter durch die Lufft wegführt. Wie erstaunet Astolph nicht, als er bey seiner Annäherung gewahr wird, daß der Mond weit größer ist als er sonst aussieht, und daß er endlich Land und Wasser, Berge und Ströme, Seen und Städte, ja so gar Nymphen gewahr wird, die sich in den Wäldern mit der Jagd belustigen. Man sollte dencken, Ariost sey den neuern Philosophen zugethan gewesen, die den Mond sowohl vor eine bewohnte Weltkugel halten als die Erde: Allein das Folgende wird sattsam zeigen, daß man ihm diese Ehre nicht anthun könne. Er findet auch ein seltsames Thal im Mon- den, wo alles anzutreffen ist, was auf der Erde verlohren ge- gangen; es mochte nun seyn was es wollte, Kron und Scepter, Geld und Gut, Ehre und Ansehen, gute Hoffnung, verschwendete Zeit, die Allmosen der Verstorbenen, die Lob- gedichte auf große Herren, und sogar die Seufzer der Ver- liebten.
Bey so vielen Wunderdingen, die der Ritter daselbst an- traff, war denn auch eine unglaubliche Menge verlohrnes Ver- standes daselbst zu finden. Da stunden unzehliche Gläser mit einem subtilen Wässerchen angefüllet, auf deren jedem der Nahme dessen geschrieben war, dem der Verstand zuge- hört. Unter so vielen Gläsern solcher Leute, die Astolph alle- zeit vor sehr klug gehalten hatte, und die doch so ziemlich voll waren, fand er auch sein eigen Gläschen, welches er sogleich erhaschte, und mit Erlaubnis des Apostels, zog er seinen Ver- stand wie Ungarisch Wasser durch die Nase wieder in sich. Das Glas Rolands traf er endlich auch an, und er bemäch- tigte sich desselben, um es mit sich zurücke zu nehmen, weil dieses der Zweck seiner Reise war. Er fand daß dasselbe sehr schwer zu tragen war, weil Roland kaum etliche Tropfen da- von übrig behalten, und sonst die Art desselben eben nicht die subtilste gewesen seyn mochte. Hiebey fängt nun Ariost an, einen verliebten Seufzer an seine Schöne zu thun, dergleichen er mitten in seinem Heldengedichte fleißig zu thun pflegt.
Er
Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
Monden thun muͤſſe. Aſtolph bedencket ſich nicht lange, ſeine irrende Ritterſchafft, auch außer der Erdkugel fortzuſetzen, und alsbald iſt ein feuriger Wagen da, der den Apoſtel und Ritter durch die Lufft wegfuͤhrt. Wie erſtaunet Aſtolph nicht, als er bey ſeiner Annaͤherung gewahr wird, daß der Mond weit groͤßer iſt als er ſonſt ausſieht, und daß er endlich Land und Waſſer, Berge und Stroͤme, Seen und Staͤdte, ja ſo gar Nymphen gewahr wird, die ſich in den Waͤldern mit der Jagd beluſtigen. Man ſollte dencken, Arioſt ſey den neuern Philoſophen zugethan geweſen, die den Mond ſowohl vor eine bewohnte Weltkugel halten als die Erde: Allein das Folgende wird ſattſam zeigen, daß man ihm dieſe Ehre nicht anthun koͤnne. Er findet auch ein ſeltſames Thal im Mon- den, wo alles anzutreffen iſt, was auf der Erde verlohren ge- gangen; es mochte nun ſeyn was es wollte, Kron und Scepter, Geld und Gut, Ehre und Anſehen, gute Hoffnung, verſchwendete Zeit, die Allmoſen der Verſtorbenen, die Lob- gedichte auf große Herren, und ſogar die Seufzer der Ver- liebten.
Bey ſo vielen Wunderdingen, die der Ritter daſelbſt an- traff, war denn auch eine unglaubliche Menge verlohꝛnes Ver- ſtandes daſelbſt zu finden. Da ſtunden unzehliche Glaͤſer mit einem ſubtilen Waͤſſerchen angefuͤllet, auf deren jedem der Nahme deſſen geſchrieben war, dem der Verſtand zuge- hoͤrt. Unter ſo vielen Glaͤſern ſolcher Leute, die Aſtolph alle- zeit vor ſehr klug gehalten hatte, und die doch ſo ziemlich voll waren, fand er auch ſein eigen Glaͤschen, welches er ſogleich erhaſchte, und mit Erlaubnis des Apoſtels, zog er ſeinen Ver- ſtand wie Ungariſch Waſſer durch die Naſe wieder in ſich. Das Glas Rolands traf er endlich auch an, und er bemaͤch- tigte ſich deſſelben, um es mit ſich zuruͤcke zu nehmen, weil dieſes der Zweck ſeiner Reiſe war. Er fand daß daſſelbe ſehr ſchwer zu tragen war, weil Roland kaum etliche Tropfen da- von uͤbrig behalten, und ſonſt die Art deſſelben eben nicht die ſubtilſte geweſen ſeyn mochte. Hiebey faͤngt nun Arioſt an, einen verliebten Seufzer an ſeine Schoͤne zu thun, dergleichen er mitten in ſeinem Heldengedichte fleißig zu thun pflegt.
Er
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Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
Monden thun muͤſſe. Aſtolph bedencket ſich nicht lange, ſeine
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und alsbald iſt ein feuriger Wagen da, der den Apoſtel und
Ritter durch die Lufft wegfuͤhrt. Wie erſtaunet Aſtolph
nicht, als er bey ſeiner Annaͤherung gewahr wird, daß der
Mond weit groͤßer iſt als er ſonſt ausſieht, und daß er endlich
Land und Waſſer, Berge und Stroͤme, Seen und Staͤdte,
ja ſo gar Nymphen gewahr wird, die ſich in den Waͤldern
mit der Jagd beluſtigen. Man ſollte dencken, Arioſt ſey den
neuern Philoſophen zugethan geweſen, die den Mond ſowohl
vor eine bewohnte Weltkugel halten als die Erde: Allein das
Folgende wird ſattſam zeigen, daß man ihm dieſe Ehre nicht
anthun koͤnne. Er findet auch ein ſeltſames Thal im Mon-
den, wo alles anzutreffen iſt, was auf der Erde verlohren ge-
gangen; es mochte nun ſeyn was es wollte, Kron und
Scepter, Geld und Gut, Ehre und Anſehen, gute Hoffnung,
verſchwendete Zeit, die Allmoſen der Verſtorbenen, die Lob-
gedichte auf große Herren, und ſogar die Seufzer der Ver-
liebten.
Bey ſo vielen Wunderdingen, die der Ritter daſelbſt an-
traff, war denn auch eine unglaubliche Menge verlohꝛnes Ver-
ſtandes daſelbſt zu finden. Da ſtunden unzehliche Glaͤſer
mit einem ſubtilen Waͤſſerchen angefuͤllet, auf deren jedem
der Nahme deſſen geſchrieben war, dem der Verſtand zuge-
hoͤrt. Unter ſo vielen Glaͤſern ſolcher Leute, die Aſtolph alle-
zeit vor ſehr klug gehalten hatte, und die doch ſo ziemlich voll
waren, fand er auch ſein eigen Glaͤschen, welches er ſogleich
erhaſchte, und mit Erlaubnis des Apoſtels, zog er ſeinen Ver-
ſtand wie Ungariſch Waſſer durch die Naſe wieder in ſich.
Das Glas Rolands traf er endlich auch an, und er bemaͤch-
tigte ſich deſſelben, um es mit ſich zuruͤcke zu nehmen, weil
dieſes der Zweck ſeiner Reiſe war. Er fand daß daſſelbe ſehr
ſchwer zu tragen war, weil Roland kaum etliche Tropfen da-
von uͤbrig behalten, und ſonſt die Art deſſelben eben nicht die
ſubtilſte geweſen ſeyn mochte. Hiebey faͤngt nun Arioſt an,
einen verliebten Seufzer an ſeine Schoͤne zu thun, dergleichen
er mitten in ſeinem Heldengedichte fleißig zu thun pflegt.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/203>, abgerufen am 16.02.2025.
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