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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie.
er den Eneas zur Dido nach Africa kommen, und die neuan-
gelegte Stadt Carthago besuchen lassen. Es ist bekannt,
wie unmöglich dieses nach der Zeitrechnung ist, indem Dido
allererst zwey bis dreyhundert Jahre nach des Eneas Ankunft
in Jtalien gelebt. Wenn das angienge, so müste es auch
erlaubt seyn, daß GOtt mit den Kindern Adams ein Exa-
men aus Lutheri Catechismo angestellet, wie Hans Sachse
in einer schönen Comödie gethan; oder daß Adam selbst auf
seinem Sterbe-Bette ein Testament gemacht, und darinn
seinen Kindern anbefohlen, an GOtt Vater, Sohn und hei-
ligen Geist zu glauben, wie Loredano in dem Leben Adams
schreibt. Es ist wahr, daß man in Rom die alte Chronologie
so genau nicht gewust, und also der Pöbel diesen Fehler Vir-
gils nicht wahrgenommen. Allein in solchen Stücken muß
ein Dichter mehr auf einen verständigen Criticum, als auf
eine gantze Stadt voll unwissender Leute sehen; weil der Ta-
del, den er bey jenem verdient, ihm weit mehr schaden, als
der Beyfall von diesen nützen kan. Jch übergehe hier die
entsetzlich lange Erzehlung, die Virgil seinen Helden bey der
Dido einen Abend machen läßt; da es gewiß viel wahr-
scheinlicher ist, daß sie darüber eingeschlafen seyn, oder doch
fleißig gejähnet haben würde; als daß sie ihm so gedultig,
und ohne ein Wort dazwischen zu reden, zugehöret haben
sollte. Jch verschweige auch andre Unwahrscheinlichkeiten
dieses Poeten, und komme auf die Fehler einiger Neuern in
diesem Stücke.

Camoens, ein neuer Portugiesischer Poet, hat auf
eine besondre Art wieder die Wahrscheinlichkeit verstoßen,
wenn er die heydnischen Götter und das Christenthum ver-
mischet hat. Verasco sein Held, ruffet Christum in einem
Gebet an, und anstatt dessen kommt ihm die Göttin Venus
zu Hülfe. Die Absicht der gantzen Schiffahrt, die er be-
schreibt, soll die Ausbreitung der Christlichen Religion seyn;
indessen regiert Jupiter, Bacchus und Venus die gantze
Reise, und das Unternehmen des Verasco. Unter andern
sagt dieser Held einmahl zu einem wilden Könige, dem er seine
Geschichte erzehlet: O König, urtheile nun ob Eneas und

Ulysses

Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
er den Eneas zur Dido nach Africa kommen, und die neuan-
gelegte Stadt Carthago beſuchen laſſen. Es iſt bekannt,
wie unmoͤglich dieſes nach der Zeitrechnung iſt, indem Dido
allererſt zwey bis dreyhundert Jahre nach des Eneas Ankunft
in Jtalien gelebt. Wenn das angienge, ſo muͤſte es auch
erlaubt ſeyn, daß GOtt mit den Kindern Adams ein Exa-
men aus Lutheri Catechiſmo angeſtellet, wie Hans Sachſe
in einer ſchoͤnen Comoͤdie gethan; oder daß Adam ſelbſt auf
ſeinem Sterbe-Bette ein Teſtament gemacht, und darinn
ſeinen Kindern anbefohlen, an GOtt Vater, Sohn und hei-
ligen Geiſt zu glauben, wie Loredano in dem Leben Adams
ſchreibt. Es iſt wahr, daß man in Rom die alte Chronologie
ſo genau nicht gewuſt, und alſo der Poͤbel dieſen Fehler Vir-
gils nicht wahrgenommen. Allein in ſolchen Stuͤcken muß
ein Dichter mehr auf einen verſtaͤndigen Criticum, als auf
eine gantze Stadt voll unwiſſender Leute ſehen; weil der Ta-
del, den er bey jenem verdient, ihm weit mehr ſchaden, als
der Beyfall von dieſen nuͤtzen kan. Jch uͤbergehe hier die
entſetzlich lange Erzehlung, die Virgil ſeinen Helden bey der
Dido einen Abend machen laͤßt; da es gewiß viel wahr-
ſcheinlicher iſt, daß ſie daruͤber eingeſchlafen ſeyn, oder doch
fleißig gejaͤhnet haben wuͤrde; als daß ſie ihm ſo gedultig,
und ohne ein Wort dazwiſchen zu reden, zugehoͤret haben
ſollte. Jch verſchweige auch andre Unwahrſcheinlichkeiten
dieſes Poeten, und komme auf die Fehler einiger Neuern in
dieſem Stuͤcke.

Camoens, ein neuer Portugieſiſcher Poet, hat auf
eine beſondre Art wieder die Wahrſcheinlichkeit verſtoßen,
wenn er die heydniſchen Goͤtter und das Chriſtenthum ver-
miſchet hat. Veraſco ſein Held, ruffet Chriſtum in einem
Gebet an, und anſtatt deſſen kommt ihm die Goͤttin Venus
zu Huͤlfe. Die Abſicht der gantzen Schiffahrt, die er be-
ſchreibt, ſoll die Ausbreitung der Chriſtlichen Religion ſeyn;
indeſſen regiert Jupiter, Bacchus und Venus die gantze
Reiſe, und das Unternehmen des Veraſco. Unter andern
ſagt dieſer Held einmahl zu einem wilden Koͤnige, dem er ſeine
Geſchichte erzehlet: O Koͤnig, urtheile nun ob Eneas und

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[171/0199] Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. er den Eneas zur Dido nach Africa kommen, und die neuan- gelegte Stadt Carthago beſuchen laſſen. Es iſt bekannt, wie unmoͤglich dieſes nach der Zeitrechnung iſt, indem Dido allererſt zwey bis dreyhundert Jahre nach des Eneas Ankunft in Jtalien gelebt. Wenn das angienge, ſo muͤſte es auch erlaubt ſeyn, daß GOtt mit den Kindern Adams ein Exa- men aus Lutheri Catechiſmo angeſtellet, wie Hans Sachſe in einer ſchoͤnen Comoͤdie gethan; oder daß Adam ſelbſt auf ſeinem Sterbe-Bette ein Teſtament gemacht, und darinn ſeinen Kindern anbefohlen, an GOtt Vater, Sohn und hei- ligen Geiſt zu glauben, wie Loredano in dem Leben Adams ſchreibt. Es iſt wahr, daß man in Rom die alte Chronologie ſo genau nicht gewuſt, und alſo der Poͤbel dieſen Fehler Vir- gils nicht wahrgenommen. Allein in ſolchen Stuͤcken muß ein Dichter mehr auf einen verſtaͤndigen Criticum, als auf eine gantze Stadt voll unwiſſender Leute ſehen; weil der Ta- del, den er bey jenem verdient, ihm weit mehr ſchaden, als der Beyfall von dieſen nuͤtzen kan. Jch uͤbergehe hier die entſetzlich lange Erzehlung, die Virgil ſeinen Helden bey der Dido einen Abend machen laͤßt; da es gewiß viel wahr- ſcheinlicher iſt, daß ſie daruͤber eingeſchlafen ſeyn, oder doch fleißig gejaͤhnet haben wuͤrde; als daß ſie ihm ſo gedultig, und ohne ein Wort dazwiſchen zu reden, zugehoͤret haben ſollte. Jch verſchweige auch andre Unwahrſcheinlichkeiten dieſes Poeten, und komme auf die Fehler einiger Neuern in dieſem Stuͤcke. Camoens, ein neuer Portugieſiſcher Poet, hat auf eine beſondre Art wieder die Wahrſcheinlichkeit verſtoßen, wenn er die heydniſchen Goͤtter und das Chriſtenthum ver- miſchet hat. Veraſco ſein Held, ruffet Chriſtum in einem Gebet an, und anſtatt deſſen kommt ihm die Goͤttin Venus zu Huͤlfe. Die Abſicht der gantzen Schiffahrt, die er be- ſchreibt, ſoll die Ausbreitung der Chriſtlichen Religion ſeyn; indeſſen regiert Jupiter, Bacchus und Venus die gantze Reiſe, und das Unternehmen des Veraſco. Unter andern ſagt dieſer Held einmahl zu einem wilden Koͤnige, dem er ſeine Geſchichte erzehlet: O Koͤnig, urtheile nun ob Eneas und Ulyſſes

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/199>, abgerufen am 24.11.2024.