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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie.
eine Mahlzeit zubereitet, die Küche bestellet, aufträgt, und
zu Tische dient. Allein sie müsten zuförderst beweisen, daß
man damahls schon nach unserm heutigen Ceremoniel sich
durch Edelknaben, Kammerdiener und Lakeyen aufwarten
lassen, oder einen eigenen Mundkoch gehalten. Die Ein-
falt der alten Zeiten macht dergleichen Verhalten Achillis
gantz wahrscheinlich, so ungereimt es heutiges Tages klingen
würde, wenn man einen Marlboroug, oder Printz von Ba-
den dergestalt beschreiben wollte. Es wäre gut wenn man
den Homer überall so leicht entschuldigen könnte. Allein
wenn er seine Helden mitten im hitzigsten Gefechte zusam-
men kommen und halbe Stunden lang mit einander zancken
läßt, als wenn sie weder Spieß noch Schwerdt in Händen
hätten: So kan man nicht leicht einen Vorwand finden.
Sie schimpfen einander aufs ärgste, ein jeder prahlt dem an-
dern seine Abkunft, Waffen und Thaten vor; ja sie erzehlen
einander wohl gar die Geschlechtregister ihrer Pferde, daß
einem Leser Zeit und Weile darüber lang wird. Das schi-
cket sich nun vor wütende Soldaten, und solche hertzhaffte
Kriegsleute nicht, als seine Helden waren. Warum schlagen
sie nicht lieber zu? Warum verderben sie die Zeit mit einem
unnöthigen Geplauder? Hier läuft alles wieder die Natur
menschlicher Affecten, die zu allen Zeiten einerley gewesen;
und Homer kan auf keine Weise gerettet werden. Eben die
Unwahrscheinlichkeit herrschet in den langen Anreden, die
Hector z. E. an seine vier Pferde hält. Xanthus und Po-
dargus, heißt es, und du Ethon und Lampus, hier habt ihr
die schönste Gelegenheit, mir alle die Mühe zu vergelten, die
Andromacha, des großmüthigen Ections Tochter an euch
gewandt, indem sie euch täglich selbst gefüttert, und lieber
euch als mir das Brodt und den Wein von meinem Tische
gegönnet hat. Wie offt hat sie mich verlassen, um euch zu
besuchen? Die Pferde der Götter sind selbst niemahls besser
gehalten worden. Zeiget denn eure Erkenntlichkeit itzo,
verfolget den Feind aufs schleunigste, schonet euch nicht, eilet,
damit ich den Schild Nestors bekomme, der gantz von dich-
tem Golde ist, und dessen Ruhm bis an die Sterne steiget;

wie
L 5

Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
eine Mahlzeit zubereitet, die Kuͤche beſtellet, auftraͤgt, und
zu Tiſche dient. Allein ſie muͤſten zufoͤrderſt beweiſen, daß
man damahls ſchon nach unſerm heutigen Ceremoniel ſich
durch Edelknaben, Kammerdiener und Lakeyen aufwarten
laſſen, oder einen eigenen Mundkoch gehalten. Die Ein-
falt der alten Zeiten macht dergleichen Verhalten Achillis
gantz wahrſcheinlich, ſo ungereimt es heutiges Tages klingen
wuͤrde, wenn man einen Marlboroug, oder Printz von Ba-
den dergeſtalt beſchreiben wollte. Es waͤre gut wenn man
den Homer uͤberall ſo leicht entſchuldigen koͤnnte. Allein
wenn er ſeine Helden mitten im hitzigſten Gefechte zuſam-
men kommen und halbe Stunden lang mit einander zancken
laͤßt, als wenn ſie weder Spieß noch Schwerdt in Haͤnden
haͤtten: So kan man nicht leicht einen Vorwand finden.
Sie ſchimpfen einander aufs aͤrgſte, ein jeder prahlt dem an-
dern ſeine Abkunft, Waffen und Thaten vor; ja ſie erzehlen
einander wohl gar die Geſchlechtregiſter ihrer Pferde, daß
einem Leſer Zeit und Weile daruͤber lang wird. Das ſchi-
cket ſich nun vor wuͤtende Soldaten, und ſolche hertzhaffte
Kriegsleute nicht, als ſeine Helden waren. Warum ſchlagen
ſie nicht lieber zu? Warum verderben ſie die Zeit mit einem
unnoͤthigen Geplauder? Hier laͤuft alles wieder die Natur
menſchlicher Affecten, die zu allen Zeiten einerley geweſen;
und Homer kan auf keine Weiſe gerettet werden. Eben die
Unwahrſcheinlichkeit herrſchet in den langen Anreden, die
Hector z. E. an ſeine vier Pferde haͤlt. Xanthus und Po-
dargus, heißt es, und du Ethon und Lampus, hier habt ihr
die ſchoͤnſte Gelegenheit, mir alle die Muͤhe zu vergelten, die
Andromacha, des großmuͤthigen Ections Tochter an euch
gewandt, indem ſie euch taͤglich ſelbſt gefuͤttert, und lieber
euch als mir das Brodt und den Wein von meinem Tiſche
gegoͤnnet hat. Wie offt hat ſie mich verlaſſen, um euch zu
beſuchen? Die Pferde der Goͤtter ſind ſelbſt niemahls beſſer
gehalten worden. Zeiget denn eure Erkenntlichkeit itzo,
verfolget den Feind aufs ſchleunigſte, ſchonet euch nicht, eilet,
damit ich den Schild Neſtors bekomme, der gantz von dich-
tem Golde iſt, und deſſen Ruhm bis an die Sterne ſteiget;

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[169/0197] Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. eine Mahlzeit zubereitet, die Kuͤche beſtellet, auftraͤgt, und zu Tiſche dient. Allein ſie muͤſten zufoͤrderſt beweiſen, daß man damahls ſchon nach unſerm heutigen Ceremoniel ſich durch Edelknaben, Kammerdiener und Lakeyen aufwarten laſſen, oder einen eigenen Mundkoch gehalten. Die Ein- falt der alten Zeiten macht dergleichen Verhalten Achillis gantz wahrſcheinlich, ſo ungereimt es heutiges Tages klingen wuͤrde, wenn man einen Marlboroug, oder Printz von Ba- den dergeſtalt beſchreiben wollte. Es waͤre gut wenn man den Homer uͤberall ſo leicht entſchuldigen koͤnnte. Allein wenn er ſeine Helden mitten im hitzigſten Gefechte zuſam- men kommen und halbe Stunden lang mit einander zancken laͤßt, als wenn ſie weder Spieß noch Schwerdt in Haͤnden haͤtten: So kan man nicht leicht einen Vorwand finden. Sie ſchimpfen einander aufs aͤrgſte, ein jeder prahlt dem an- dern ſeine Abkunft, Waffen und Thaten vor; ja ſie erzehlen einander wohl gar die Geſchlechtregiſter ihrer Pferde, daß einem Leſer Zeit und Weile daruͤber lang wird. Das ſchi- cket ſich nun vor wuͤtende Soldaten, und ſolche hertzhaffte Kriegsleute nicht, als ſeine Helden waren. Warum ſchlagen ſie nicht lieber zu? Warum verderben ſie die Zeit mit einem unnoͤthigen Geplauder? Hier laͤuft alles wieder die Natur menſchlicher Affecten, die zu allen Zeiten einerley geweſen; und Homer kan auf keine Weiſe gerettet werden. Eben die Unwahrſcheinlichkeit herrſchet in den langen Anreden, die Hector z. E. an ſeine vier Pferde haͤlt. Xanthus und Po- dargus, heißt es, und du Ethon und Lampus, hier habt ihr die ſchoͤnſte Gelegenheit, mir alle die Muͤhe zu vergelten, die Andromacha, des großmuͤthigen Ections Tochter an euch gewandt, indem ſie euch taͤglich ſelbſt gefuͤttert, und lieber euch als mir das Brodt und den Wein von meinem Tiſche gegoͤnnet hat. Wie offt hat ſie mich verlaſſen, um euch zu beſuchen? Die Pferde der Goͤtter ſind ſelbſt niemahls beſſer gehalten worden. Zeiget denn eure Erkenntlichkeit itzo, verfolget den Feind aufs ſchleunigſte, ſchonet euch nicht, eilet, damit ich den Schild Neſtors bekomme, der gantz von dich- tem Golde iſt, und deſſen Ruhm bis an die Sterne ſteiget; wie L 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/197>, abgerufen am 24.11.2024.