len, daß der Oelbaum solches abschlagen und sagen wird: Soll ich meine Fettigkeit lassen etc. Daß sie ferner auf den Feigenbaum gerathen; und daß dieser ihnen gleichfalls eine abschlägige Antwort giebt: Soll ich meine Süßigkeit las- sen etc. u. s. w. Hier thun weder die Bäume überhaupt, noch jeder ins besondre etwas, so nach der einmahl angenom- menen Bedingung unmöglich wäre. Ein Oelbaum redet wie ein Oelbaum, und ein Feigenbaum wie ein Feigenbaum reden würde, wenn beyde den Gebrauch der Sprache hät- ten. Hier ist nichts wiedersprechendes in der Begebenheit, folglich auch nichts unwahrscheinliches. Daß dergleichen hypothetische Wahrscheinlichkeit in der Fabel zulänglich sey, habe ich oben in der Beschreibung derselben schon sattsam angezeiget; und daß Homerus dieselbe beobachtet habe, zei- get Horatius, wenn er von ihm schreibt:
Atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet, Primo ne medium, medio ne discrepet imum.
Man kan hievon in Aristotelis Poetic das IXte und XXVste Capitel nachschlagen, so wird man finden, daß seine Ge- dancken eben dahinaus laufen; ohngeachtet er sich zuweilen harter Ausdrückungen bedienet. Le Clerc in seinen Parrha- sianis hat sich sonderlich darüber aufgehalten, daß dieser Philosoph gesagt: Die poetische Wahrscheinlichkeit gehe zuweilen bis aufs unvernünftige. Allein wer das Exem- pel ansieht, so Aristoteles davon gegeben, nehmlich da Achil- les den Hector dreymahl rund um die Stadt Troja getrie- ben, die Armeen aber indessen stockstille gestanden, wie Ho- merus in der Jlias erzehlt: So wird man wohl sehen, daß dieses so ungereimt nicht sey, als es wohl scheint. Freylich auf dem Schauplatze ließe sich dieses nicht wahrscheinlich vor- stellen, wie Aristoteles selbst gesteht. Allein in einem Hel- dengedichte, wo man nur die Erzehlungen liest, kan es wohl wahrscheinlicher klingen, sonderlich wenn der Poet das Un- glaubliche dabey künstlich zu verstecken weiß. Zum wenig- sten hat Homer diese Kunst gewust; denn er erzehlt diese Fa- bel so künstlich, daß man mit den Gedancken gantz auf die beyden Helden verfällt, und die beyden Armeen darüber
gantz
Das VI. Capitel
len, daß der Oelbaum ſolches abſchlagen und ſagen wird: Soll ich meine Fettigkeit laſſen ꝛc. Daß ſie ferner auf den Feigenbaum gerathen; und daß dieſer ihnen gleichfalls eine abſchlaͤgige Antwort giebt: Soll ich meine Suͤßigkeit laſ- ſen ꝛc. u. ſ. w. Hier thun weder die Baͤume uͤberhaupt, noch jeder ins beſondre etwas, ſo nach der einmahl angenom- menen Bedingung unmoͤglich waͤre. Ein Oelbaum redet wie ein Oelbaum, und ein Feigenbaum wie ein Feigenbaum reden wuͤrde, wenn beyde den Gebrauch der Sprache haͤt- ten. Hier iſt nichts wiederſprechendes in der Begebenheit, folglich auch nichts unwahrſcheinliches. Daß dergleichen hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit in der Fabel zulaͤnglich ſey, habe ich oben in der Beſchreibung derſelben ſchon ſattſam angezeiget; und daß Homerus dieſelbe beobachtet habe, zei- get Horatius, wenn er von ihm ſchreibt:
Atque ita mentitur, ſic veris falſa remiſcet, Primo ne medium, medio ne diſcrepet imum.
Man kan hievon in Ariſtotelis Poetic das IXte und XXVſte Capitel nachſchlagen, ſo wird man finden, daß ſeine Ge- dancken eben dahinaus laufen; ohngeachtet er ſich zuweilen harter Ausdruͤckungen bedienet. Le Clerc in ſeinen Parrha- ſianis hat ſich ſonderlich daruͤber aufgehalten, daß dieſer Philoſoph geſagt: Die poetiſche Wahrſcheinlichkeit gehe zuweilen bis aufs unvernuͤnftige. Allein wer das Exem- pel anſieht, ſo Ariſtoteles davon gegeben, nehmlich da Achil- les den Hector dreymahl rund um die Stadt Troja getrie- ben, die Armeen aber indeſſen ſtockſtille geſtanden, wie Ho- merus in der Jlias erzehlt: So wird man wohl ſehen, daß dieſes ſo ungereimt nicht ſey, als es wohl ſcheint. Freylich auf dem Schauplatze ließe ſich dieſes nicht wahrſcheinlich vor- ſtellen, wie Ariſtoteles ſelbſt geſteht. Allein in einem Hel- dengedichte, wo man nur die Erzehlungen lieſt, kan es wohl wahrſcheinlicher klingen, ſonderlich wenn der Poet das Un- glaubliche dabey kuͤnſtlich zu verſtecken weiß. Zum wenig- ſten hat Homer dieſe Kunſt gewuſt; denn er erzehlt dieſe Fa- bel ſo kuͤnſtlich, daß man mit den Gedancken gantz auf die beyden Helden verfaͤllt, und die beyden Armeen daruͤber
gantz
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Das VI. Capitel
len, daß der Oelbaum ſolches abſchlagen und ſagen wird:
Soll ich meine Fettigkeit laſſen ꝛc. Daß ſie ferner auf den
Feigenbaum gerathen; und daß dieſer ihnen gleichfalls eine
abſchlaͤgige Antwort giebt: Soll ich meine Suͤßigkeit laſ-
ſen ꝛc. u. ſ. w. Hier thun weder die Baͤume uͤberhaupt,
noch jeder ins beſondre etwas, ſo nach der einmahl angenom-
menen Bedingung unmoͤglich waͤre. Ein Oelbaum redet
wie ein Oelbaum, und ein Feigenbaum wie ein Feigenbaum
reden wuͤrde, wenn beyde den Gebrauch der Sprache haͤt-
ten. Hier iſt nichts wiederſprechendes in der Begebenheit,
folglich auch nichts unwahrſcheinliches. Daß dergleichen
hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit in der Fabel zulaͤnglich ſey,
habe ich oben in der Beſchreibung derſelben ſchon ſattſam
angezeiget; und daß Homerus dieſelbe beobachtet habe, zei-
get Horatius, wenn er von ihm ſchreibt:
Atque ita mentitur, ſic veris falſa remiſcet,
Primo ne medium, medio ne diſcrepet imum.
Man kan hievon in Ariſtotelis Poetic das IXte und XXVſte
Capitel nachſchlagen, ſo wird man finden, daß ſeine Ge-
dancken eben dahinaus laufen; ohngeachtet er ſich zuweilen
harter Ausdruͤckungen bedienet. Le Clerc in ſeinen Parrha-
ſianis hat ſich ſonderlich daruͤber aufgehalten, daß dieſer
Philoſoph geſagt: Die poetiſche Wahrſcheinlichkeit gehe
zuweilen bis aufs unvernuͤnftige. Allein wer das Exem-
pel anſieht, ſo Ariſtoteles davon gegeben, nehmlich da Achil-
les den Hector dreymahl rund um die Stadt Troja getrie-
ben, die Armeen aber indeſſen ſtockſtille geſtanden, wie Ho-
merus in der Jlias erzehlt: So wird man wohl ſehen, daß
dieſes ſo ungereimt nicht ſey, als es wohl ſcheint. Freylich
auf dem Schauplatze ließe ſich dieſes nicht wahrſcheinlich vor-
ſtellen, wie Ariſtoteles ſelbſt geſteht. Allein in einem Hel-
dengedichte, wo man nur die Erzehlungen lieſt, kan es wohl
wahrſcheinlicher klingen, ſonderlich wenn der Poet das Un-
glaubliche dabey kuͤnſtlich zu verſtecken weiß. Zum wenig-
ſten hat Homer dieſe Kunſt gewuſt; denn er erzehlt dieſe Fa-
bel ſo kuͤnſtlich, daß man mit den Gedancken gantz auf die
beyden Helden verfaͤllt, und die beyden Armeen daruͤber
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/194>, abgerufen am 27.07.2024.
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