Scimus, & hanc veniam petimusque damusque vicissim: Sed non ut placidis coeant immitia, non vt Serpentes ouibus geminentur, tigribus agni.
Was heißt das anders gesagt, als daß ein Poet in seinen Fa- beln beständig die Regeln der Wahrscheinlichkeit vor Augen haben müsse.
Vielleicht denckt jemand, dieses sey demjenigen zuwie- der was in dem Hauptstücke von der Fabel schon gesagt wor- den. Wir theilten da die Fabeln in wahrscheinliche, un- wahrscheinliche und vermischte ein, und rechneten zu den un- wahrscheinlichen die meisten Esopischen, wo nehmlich die un- vernünftigen Thiere redend eingeführet werden. Soll die Wahrscheinlichkeit in allen Gedichten herrschen, wird man etwa sprechen; so müssen ja alle diese thierische Begebenhei- ten verworfen und aus der Poesie verbannet werden. Allein man muß hier die Wahrscheinlichkeit in eine unbedingte und hypothetische Wahrscheinlichkeit abtheilen. Jene findet sich freylich in den Esopischen Fabeln nicht, wenn Bäume und Thiere als vernünftige Menschen handelnd eingeführet werden. Nach dem gemeinen Laufe der Natur pflegt sol- ches nicht zu geschehen, daher pflegt man auch Kindern bey Erzehlung solcher Fabeln vorherzusagen: Sie hätten sich damahls zugetragen, als die Thiere noch reden konnten; wodurch man ihnen zugesteht, daß solche Begebenheiten frey- lich nach der itzigen Beschaffenheit der Thiere, keinen Schein der Möglichkeit an sich haben. Deswegen aber kan man doch diesen Fabeln die hypothetische Wahrscheinlichkeit nicht absprechen, die unter gewissen Umständen dennoch statt hat, wenn gleich so schlechterdings keine verhanden wäre. Daß z. E. die Bäume sich einen König wehlen können, ist an sich selbst weder möglich noch wahrscheinlich; gleichwohl macht dort im Buche der Richter Jotham eine schöne Fabel daraus, der es an ihrer hypothetischen Wahrscheinlichkeit nicht im ge- ringsten mangelt. Denn man darf nur die Bedingung zum voraussetzen, daß die Bäume Verstand und Sprache ha- ben, so geht alles übrige an. Es wird möglich und wahr- scheinlich seyn, daß sie in ihrer Wahl auf den Oelbaum fal-
len,
L 3
Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
Scimus, & hanc veniam petimusque damusque viciſſim: Sed non ut placidis coeant immitia, non vt Serpentes ouibus geminentur, tigribus agni.
Was heißt das anders geſagt, als daß ein Poet in ſeinen Fa- beln beſtaͤndig die Regeln der Wahrſcheinlichkeit vor Augen haben muͤſſe.
Vielleicht denckt jemand, dieſes ſey demjenigen zuwie- der was in dem Hauptſtuͤcke von der Fabel ſchon geſagt wor- den. Wir theilten da die Fabeln in wahrſcheinliche, un- wahrſcheinliche und vermiſchte ein, und rechneten zu den un- wahrſcheinlichen die meiſten Eſopiſchen, wo nehmlich die un- vernuͤnftigen Thiere redend eingefuͤhret werden. Soll die Wahrſcheinlichkeit in allen Gedichten herrſchen, wird man etwa ſprechen; ſo muͤſſen ja alle dieſe thieriſche Begebenhei- ten verworfen und aus der Poeſie verbannet werden. Allein man muß hier die Wahrſcheinlichkeit in eine unbedingte und hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit abtheilen. Jene findet ſich freylich in den Eſopiſchen Fabeln nicht, wenn Baͤume und Thiere als vernuͤnftige Menſchen handelnd eingefuͤhret werden. Nach dem gemeinen Laufe der Natur pflegt ſol- ches nicht zu geſchehen, daher pflegt man auch Kindern bey Erzehlung ſolcher Fabeln vorherzuſagen: Sie haͤtten ſich damahls zugetragen, als die Thiere noch reden konnten; wodurch man ihnen zugeſteht, daß ſolche Begebenheiten frey- lich nach der itzigen Beſchaffenheit der Thiere, keinen Schein der Moͤglichkeit an ſich haben. Deswegen aber kan man doch dieſen Fabeln die hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit nicht abſprechen, die unter gewiſſen Umſtaͤnden dennoch ſtatt hat, wenn gleich ſo ſchlechterdings keine verhanden waͤre. Daß z. E. die Baͤume ſich einen Koͤnig wehlen koͤnnen, iſt an ſich ſelbſt weder moͤglich noch wahrſcheinlich; gleichwohl macht dort im Buche der Richter Jotham eine ſchoͤne Fabel daraus, der es an ihrer hypothetiſchen Wahrſcheinlichkeit nicht im ge- ringſten mangelt. Denn man darf nur die Bedingung zum vorausſetzen, daß die Baͤume Verſtand und Sprache ha- ben, ſo geht alles uͤbrige an. Es wird moͤglich und wahr- ſcheinlich ſeyn, daß ſie in ihrer Wahl auf den Oelbaum fal-
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Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
Scimus, & hanc veniam petimusque damusque viciſſim:
Sed non ut placidis coeant immitia, non vt
Serpentes ouibus geminentur, tigribus agni.
Was heißt das anders geſagt, als daß ein Poet in ſeinen Fa-
beln beſtaͤndig die Regeln der Wahrſcheinlichkeit vor Augen
haben muͤſſe.
Vielleicht denckt jemand, dieſes ſey demjenigen zuwie-
der was in dem Hauptſtuͤcke von der Fabel ſchon geſagt wor-
den. Wir theilten da die Fabeln in wahrſcheinliche, un-
wahrſcheinliche und vermiſchte ein, und rechneten zu den un-
wahrſcheinlichen die meiſten Eſopiſchen, wo nehmlich die un-
vernuͤnftigen Thiere redend eingefuͤhret werden. Soll die
Wahrſcheinlichkeit in allen Gedichten herrſchen, wird man
etwa ſprechen; ſo muͤſſen ja alle dieſe thieriſche Begebenhei-
ten verworfen und aus der Poeſie verbannet werden. Allein
man muß hier die Wahrſcheinlichkeit in eine unbedingte und
hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit abtheilen. Jene findet
ſich freylich in den Eſopiſchen Fabeln nicht, wenn Baͤume
und Thiere als vernuͤnftige Menſchen handelnd eingefuͤhret
werden. Nach dem gemeinen Laufe der Natur pflegt ſol-
ches nicht zu geſchehen, daher pflegt man auch Kindern bey
Erzehlung ſolcher Fabeln vorherzuſagen: Sie haͤtten ſich
damahls zugetragen, als die Thiere noch reden konnten;
wodurch man ihnen zugeſteht, daß ſolche Begebenheiten frey-
lich nach der itzigen Beſchaffenheit der Thiere, keinen Schein
der Moͤglichkeit an ſich haben. Deswegen aber kan man
doch dieſen Fabeln die hypothetiſche Wahrſcheinlichkeit nicht
abſprechen, die unter gewiſſen Umſtaͤnden dennoch ſtatt hat,
wenn gleich ſo ſchlechterdings keine verhanden waͤre. Daß
z. E. die Baͤume ſich einen Koͤnig wehlen koͤnnen, iſt an ſich
ſelbſt weder moͤglich noch wahrſcheinlich; gleichwohl macht
dort im Buche der Richter Jotham eine ſchoͤne Fabel daraus,
der es an ihrer hypothetiſchen Wahrſcheinlichkeit nicht im ge-
ringſten mangelt. Denn man darf nur die Bedingung zum
vorausſetzen, daß die Baͤume Verſtand und Sprache ha-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/193>, abgerufen am 24.11.2024.
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