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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wunderbaren in der Poesie.
schmackte und Eckelhaffte verfallen könne. So wahr ists
was Horatz sagt:

Maxima pars vatum - - -
Decipimur specie recti. - - -
Qui variare cupit rem prodigialiter vnam
Delphinum siluis appingit, fluctibus aprum.
In vitium ducit culpae fuga, si caret arte.

Jch könnte noch von dem Wunderbaren so in Glücks- und
Unglücksfällen vorkommt, allhier handeln. Diese betreffen
ebenfalls die Menschen, und gehören also in diese Classe.
Die Begebenheiten, davon die Poeten ihre Gedichte verfer-
tigen, müssen auch in der That, eben so wohl seltsam und un-
gemein seyn, als die Personen und Handlungen derselben.
Es muß ihren Helden viel unvermuthetes begegnen, so bald
zu ihren Absichten behülflich ist, bald denenselben zuwieder-
läuft. Theils entsteht dieses aus den Wegen der göttlichen
Vorsehung, die Großen und Kleinen offt einen Strich durch
ihre Rechnungen macht, und ihnen gantz andre Wege zeiget
als sie zu gehen gedacht. Theils aber kommt es auch unmit-
telbar von andern Leuten her. Diese hindern offt einander
in ihren Verrichtungen und Absichten; es sey nun unwissend
oder mit gutem Bedacht, und daher entstehen so viel plötzli-
che Veränderungen, daß man darüber erstaunet, ob es gleich
alles gantz natürlich zugeht. Eben dahin rechne ich die Ver-
kleidung und Entdeckung gewisser Personen, die bisweilen
einer Sache schleunig einen andern Ausschlag giebt. Doch
weil in allen diesen Stücken hauptsächlich die Intrigue, der
Knoten oder die Verwirrung der Fabeln besteht, die in
Schauspielen hauptsächlich vorkommt: so muß ich es bis da-
hin versparen.

Die dritte und letzte Gattung des Wunderbahren war
diejenige Art desselben, so auf Thiere und leblose Dinge an-
kommt. Diese braucht nun ein Poet am wenigsten, weil er
sich mehrentheils mit dem Menschen beschäfftiget, und das
Ubrige nur in so weit braucht, als es hierzu dienlich seyn kan.
Neue Gattungen von Thieren zu dichten ist wohl kaum er-
laubt, weil es doch nur Chimären werden könnten, die in

einem
L

Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
ſchmackte und Eckelhaffte verfallen koͤnne. So wahr iſts
was Horatz ſagt:

Maxima pars vatum ‒ ‒ ‒
Decipimur ſpecie recti. ‒ ‒ ‒
Qui variare cupit rem prodigialiter vnam
Delphinum ſiluis appingit, fluctibus aprum.
In vitium ducit culpae fuga, ſi caret arte.

Jch koͤnnte noch von dem Wunderbaren ſo in Gluͤcks- und
Ungluͤcksfaͤllen vorkommt, allhier handeln. Dieſe betreffen
ebenfalls die Menſchen, und gehoͤren alſo in dieſe Claſſe.
Die Begebenheiten, davon die Poeten ihre Gedichte verfer-
tigen, muͤſſen auch in der That, eben ſo wohl ſeltſam und un-
gemein ſeyn, als die Perſonen und Handlungen derſelben.
Es muß ihren Helden viel unvermuthetes begegnen, ſo bald
zu ihren Abſichten behuͤlflich iſt, bald denenſelben zuwieder-
laͤuft. Theils entſteht dieſes aus den Wegen der goͤttlichen
Vorſehung, die Großen und Kleinen offt einen Strich durch
ihre Rechnungen macht, und ihnen gantz andre Wege zeiget
als ſie zu gehen gedacht. Theils aber kommt es auch unmit-
telbar von andern Leuten her. Dieſe hindern offt einander
in ihren Verrichtungen und Abſichten; es ſey nun unwiſſend
oder mit gutem Bedacht, und daher entſtehen ſo viel ploͤtzli-
che Veraͤnderungen, daß man daruͤber erſtaunet, ob es gleich
alles gantz natuͤrlich zugeht. Eben dahin rechne ich die Ver-
kleidung und Entdeckung gewiſſer Perſonen, die bisweilen
einer Sache ſchleunig einen andern Ausſchlag giebt. Doch
weil in allen dieſen Stuͤcken hauptſaͤchlich die Intrigue, der
Knoten oder die Verwirrung der Fabeln beſteht, die in
Schauſpielen hauptſaͤchlich vorkommt: ſo muß ich es bis da-
hin verſparen.

Die dritte und letzte Gattung des Wunderbahren war
diejenige Art deſſelben, ſo auf Thiere und lebloſe Dinge an-
kommt. Dieſe braucht nun ein Poet am wenigſten, weil er
ſich mehrentheils mit dem Menſchen beſchaͤfftiget, und das
Ubrige nur in ſo weit braucht, als es hierzu dienlich ſeyn kan.
Neue Gattungen von Thieren zu dichten iſt wohl kaum er-
laubt, weil es doch nur Chimaͤren werden koͤnnten, die in

einem
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[161/0189] Von dem Wunderbaren in der Poeſie. ſchmackte und Eckelhaffte verfallen koͤnne. So wahr iſts was Horatz ſagt: Maxima pars vatum ‒ ‒ ‒ Decipimur ſpecie recti. ‒ ‒ ‒ Qui variare cupit rem prodigialiter vnam Delphinum ſiluis appingit, fluctibus aprum. In vitium ducit culpae fuga, ſi caret arte. Jch koͤnnte noch von dem Wunderbaren ſo in Gluͤcks- und Ungluͤcksfaͤllen vorkommt, allhier handeln. Dieſe betreffen ebenfalls die Menſchen, und gehoͤren alſo in dieſe Claſſe. Die Begebenheiten, davon die Poeten ihre Gedichte verfer- tigen, muͤſſen auch in der That, eben ſo wohl ſeltſam und un- gemein ſeyn, als die Perſonen und Handlungen derſelben. Es muß ihren Helden viel unvermuthetes begegnen, ſo bald zu ihren Abſichten behuͤlflich iſt, bald denenſelben zuwieder- laͤuft. Theils entſteht dieſes aus den Wegen der goͤttlichen Vorſehung, die Großen und Kleinen offt einen Strich durch ihre Rechnungen macht, und ihnen gantz andre Wege zeiget als ſie zu gehen gedacht. Theils aber kommt es auch unmit- telbar von andern Leuten her. Dieſe hindern offt einander in ihren Verrichtungen und Abſichten; es ſey nun unwiſſend oder mit gutem Bedacht, und daher entſtehen ſo viel ploͤtzli- che Veraͤnderungen, daß man daruͤber erſtaunet, ob es gleich alles gantz natuͤrlich zugeht. Eben dahin rechne ich die Ver- kleidung und Entdeckung gewiſſer Perſonen, die bisweilen einer Sache ſchleunig einen andern Ausſchlag giebt. Doch weil in allen dieſen Stuͤcken hauptſaͤchlich die Intrigue, der Knoten oder die Verwirrung der Fabeln beſteht, die in Schauſpielen hauptſaͤchlich vorkommt: ſo muß ich es bis da- hin verſparen. Die dritte und letzte Gattung des Wunderbahren war diejenige Art deſſelben, ſo auf Thiere und lebloſe Dinge an- kommt. Dieſe braucht nun ein Poet am wenigſten, weil er ſich mehrentheils mit dem Menſchen beſchaͤfftiget, und das Ubrige nur in ſo weit braucht, als es hierzu dienlich ſeyn kan. Neue Gattungen von Thieren zu dichten iſt wohl kaum er- laubt, weil es doch nur Chimaͤren werden koͤnnten, die in einem L

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/189>, abgerufen am 25.11.2024.