Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von dem Wunderbaren in der Poesie.
Haupt- und Staatsaction solcher Oper-Marionetten spie-
len sehen.

Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich
aus den berühmtesten Heldengedichten und Trauerspielen
gezogen. Man darf aber nicht dencken, diese Gattungen
der Gedichte wären allein der Sitz des Wunderbaren in der
Poesie. Denn ob sie gleich hauptsächlich zu ihrer Absicht
haben, die Leser und Zuschauer durch die Bewunderung und
das Schrecken zu erbauen; so ist doch deswegen das Lustspiel
mit den übrigen Arten der Gedichte davon nicht ausgeschlos-
sen. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem
andern vorziehen, und seine Gedichte dadurch beliebt machen.
Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, also
auch hier nicht aus den Augen gesetzet werden. Z. E. Wenn
ich in einer Comödie einen Geitzhals vorstelle, so muß ich
freylich keinen mittelmäßigen Geitz abbilden, den noch viele
vor eine Sparsamkeit ansehen könnten; sondern ich muß al-
les zusammen suchen, was ich an verschiedenen kargen Leu-
ten bemercket habe, und aus diesen Stücken einen vollkom-
menen Geitzhals zusammen setzen: wie jener Mahler aus
den vier schönsten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die
Schönheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil-
lens war. Jch könnte also meinen Geitzhals das Gold von
den Pillen schaben, und alles übrige thun lassen, was Canitz
in seiner Satire vom Harpax gesaget. Da wäre noch alles
wahrscheinlich, so seltsam es auch ist, und so wunderbar es
aussehen würde. Aber wenn ich den Harpax so mißtrauisch
vorstellete, daß er seinen Bedienten, die von ihm giengen, alle-
zeit die Hände und Taschen besuchte, ehe er sie herausließe;
ja ihm wohl gar nach Aufweisung beyder Hände die Worte
in den Mund legte: Ey die dritte Hand? Das dünckt
mich, hieße das Wunderbare in diesem Laster aufs höchste
treiben, und ein jeder würde dieses zwar vor einen leichtferti-
gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der
Natur ansehen.

So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der
Traurigkeit u. s. w. Das Wunderbare muß noch allezeit

in

Von dem Wunderbaren in der Poeſie.
Haupt- und Staatsaction ſolcher Oper-Marionetten ſpie-
len ſehen.

Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich
aus den beruͤhmteſten Heldengedichten und Trauerſpielen
gezogen. Man darf aber nicht dencken, dieſe Gattungen
der Gedichte waͤren allein der Sitz des Wunderbaren in der
Poeſie. Denn ob ſie gleich hauptſaͤchlich zu ihrer Abſicht
haben, die Leſer und Zuſchauer durch die Bewunderung und
das Schrecken zu erbauen; ſo iſt doch deswegen das Luſtſpiel
mit den uͤbrigen Arten der Gedichte davon nicht ausgeſchloſ-
ſen. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem
andern vorziehen, und ſeine Gedichte dadurch beliebt machen.
Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, alſo
auch hier nicht aus den Augen geſetzet werden. Z. E. Wenn
ich in einer Comoͤdie einen Geitzhals vorſtelle, ſo muß ich
freylich keinen mittelmaͤßigen Geitz abbilden, den noch viele
vor eine Sparſamkeit anſehen koͤnnten; ſondern ich muß al-
les zuſammen ſuchen, was ich an verſchiedenen kargen Leu-
ten bemercket habe, und aus dieſen Stuͤcken einen vollkom-
menen Geitzhals zuſammen ſetzen: wie jener Mahler aus
den vier ſchoͤnſten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die
Schoͤnheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil-
lens war. Jch koͤnnte alſo meinen Geitzhals das Gold von
den Pillen ſchaben, und alles uͤbrige thun laſſen, was Canitz
in ſeiner Satire vom Harpax geſaget. Da waͤre noch alles
wahrſcheinlich, ſo ſeltſam es auch iſt, und ſo wunderbar es
ausſehen wuͤrde. Aber wenn ich den Harpax ſo mißtrauiſch
vorſtellete, daß er ſeinen Bedienten, die von ihm giengen, alle-
zeit die Haͤnde und Taſchen beſuchte, ehe er ſie herausließe;
ja ihm wohl gar nach Aufweiſung beyder Haͤnde die Worte
in den Mund legte: Ey die dritte Hand? Das duͤnckt
mich, hieße das Wunderbare in dieſem Laſter aufs hoͤchſte
treiben, und ein jeder wuͤrde dieſes zwar vor einen leichtferti-
gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der
Natur anſehen.

So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der
Traurigkeit u. ſ. w. Das Wunderbare muß noch allezeit

in
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0185" n="157"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von dem Wunderbaren in der Poe&#x017F;ie.</hi></fw><lb/>
Haupt- und Staatsaction &#x017F;olcher Oper-Marionetten &#x017F;pie-<lb/>
len &#x017F;ehen.</p><lb/>
          <p>Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich<lb/>
aus den beru&#x0364;hmte&#x017F;ten Heldengedichten und Trauer&#x017F;pielen<lb/>
gezogen. Man darf aber nicht dencken, die&#x017F;e Gattungen<lb/>
der Gedichte wa&#x0364;ren allein der Sitz des Wunderbaren in der<lb/>
Poe&#x017F;ie. Denn ob &#x017F;ie gleich haupt&#x017F;a&#x0364;chlich zu ihrer Ab&#x017F;icht<lb/>
haben, die Le&#x017F;er und Zu&#x017F;chauer durch die Bewunderung und<lb/>
das Schrecken zu erbauen; &#x017F;o i&#x017F;t doch deswegen das Lu&#x017F;t&#x017F;piel<lb/>
mit den u&#x0364;brigen Arten der Gedichte davon nicht ausge&#x017F;chlo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem<lb/>
andern vorziehen, und &#x017F;eine Gedichte dadurch beliebt machen.<lb/>
Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, al&#x017F;o<lb/>
auch hier nicht aus den Augen ge&#x017F;etzet werden. Z. E. Wenn<lb/>
ich in einer Como&#x0364;die einen Geitzhals vor&#x017F;telle, &#x017F;o muß ich<lb/>
freylich keinen mittelma&#x0364;ßigen Geitz abbilden, den noch viele<lb/>
vor eine Spar&#x017F;amkeit an&#x017F;ehen ko&#x0364;nnten; &#x017F;ondern ich muß al-<lb/>
les zu&#x017F;ammen &#x017F;uchen, was ich an ver&#x017F;chiedenen kargen Leu-<lb/>
ten bemercket habe, und aus die&#x017F;en Stu&#x0364;cken einen vollkom-<lb/>
menen Geitzhals zu&#x017F;ammen &#x017F;etzen: wie jener Mahler aus<lb/>
den vier &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die<lb/>
Scho&#x0364;nheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil-<lb/>
lens war. Jch ko&#x0364;nnte al&#x017F;o meinen Geitzhals das Gold von<lb/>
den Pillen &#x017F;chaben, und alles u&#x0364;brige thun la&#x017F;&#x017F;en, was Canitz<lb/>
in &#x017F;einer Satire vom Harpax ge&#x017F;aget. Da wa&#x0364;re noch alles<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich, &#x017F;o &#x017F;elt&#x017F;am es auch i&#x017F;t, und &#x017F;o wunderbar es<lb/>
aus&#x017F;ehen wu&#x0364;rde. Aber wenn ich den Harpax &#x017F;o mißtraui&#x017F;ch<lb/>
vor&#x017F;tellete, daß er &#x017F;einen Bedienten, die von ihm giengen, alle-<lb/>
zeit die Ha&#x0364;nde und Ta&#x017F;chen be&#x017F;uchte, ehe er &#x017F;ie herausließe;<lb/>
ja ihm wohl gar nach Aufwei&#x017F;ung beyder Ha&#x0364;nde die Worte<lb/>
in den Mund legte: <hi rendition="#fr">Ey die dritte Hand?</hi> Das du&#x0364;nckt<lb/>
mich, hieße das Wunderbare in die&#x017F;em La&#x017F;ter aufs ho&#x0364;ch&#x017F;te<lb/>
treiben, und ein jeder wu&#x0364;rde die&#x017F;es zwar vor einen leichtferti-<lb/>
gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der<lb/>
Natur an&#x017F;ehen.</p><lb/>
          <p>So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der<lb/>
Traurigkeit u. &#x017F;. w. Das Wunderbare muß noch allezeit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">in</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0185] Von dem Wunderbaren in der Poeſie. Haupt- und Staatsaction ſolcher Oper-Marionetten ſpie- len ſehen. Die oben erzehlten Exempel des Wunderbaren habe ich aus den beruͤhmteſten Heldengedichten und Trauerſpielen gezogen. Man darf aber nicht dencken, dieſe Gattungen der Gedichte waͤren allein der Sitz des Wunderbaren in der Poeſie. Denn ob ſie gleich hauptſaͤchlich zu ihrer Abſicht haben, die Leſer und Zuſchauer durch die Bewunderung und das Schrecken zu erbauen; ſo iſt doch deswegen das Luſtſpiel mit den uͤbrigen Arten der Gedichte davon nicht ausgeſchloſ- ſen. Auch hier kan man das Seltene, das Ungemeine dem andern vorziehen, und ſeine Gedichte dadurch beliebt machen. Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, alſo auch hier nicht aus den Augen geſetzet werden. Z. E. Wenn ich in einer Comoͤdie einen Geitzhals vorſtelle, ſo muß ich freylich keinen mittelmaͤßigen Geitz abbilden, den noch viele vor eine Sparſamkeit anſehen koͤnnten; ſondern ich muß al- les zuſammen ſuchen, was ich an verſchiedenen kargen Leu- ten bemercket habe, und aus dieſen Stuͤcken einen vollkom- menen Geitzhals zuſammen ſetzen: wie jener Mahler aus den vier ſchoͤnſten Frauenzimmern einer gantzen Stadt die Schoͤnheiten abmerckte, die er einer Minerva zu geben wil- lens war. Jch koͤnnte alſo meinen Geitzhals das Gold von den Pillen ſchaben, und alles uͤbrige thun laſſen, was Canitz in ſeiner Satire vom Harpax geſaget. Da waͤre noch alles wahrſcheinlich, ſo ſeltſam es auch iſt, und ſo wunderbar es ausſehen wuͤrde. Aber wenn ich den Harpax ſo mißtrauiſch vorſtellete, daß er ſeinen Bedienten, die von ihm giengen, alle- zeit die Haͤnde und Taſchen beſuchte, ehe er ſie herausließe; ja ihm wohl gar nach Aufweiſung beyder Haͤnde die Worte in den Mund legte: Ey die dritte Hand? Das duͤnckt mich, hieße das Wunderbare in dieſem Laſter aufs hoͤchſte treiben, und ein jeder wuͤrde dieſes zwar vor einen leichtferti- gen Einfall des Poeten, aber vor kein wahres Nachbild der Natur anſehen. So gehts auch in dem Affecte der Liebe, des Zornes, der Traurigkeit u. ſ. w. Das Wunderbare muß noch allezeit in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/185
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/185>, abgerufen am 25.11.2024.