Jch fahre fort zu den andern Arten des Wunderbaren so von den Göttern herrühret; und das sind die Wunder- wercke so durch ihre unmittelbare Wirckung geschehen. Die Poeten haben sich derselben in Heldengedichten und Tragödien sehr häufig bedienet, sind aber nicht allezeit glück- lich damit gewesen. Ovidius hat gar ein gantzes Buch mit solchen poetischen Wundern angefüllet, und die Sache aufs höchste getrieben: So daß seine Verwandlungen auch bey den Heyden selbst alle Wahrscheinlichkeit überstiegen haben. Es ist wahr, daß man in allen Religionen den Göttern und Geistern mehr Macht zugestanden als bloßen Menschen, und daß es daher so ungereimt nicht ist, in Fällen wo sichs der Mühe verlohnet, zu dichten, es wäre ein Wunderwerck von GOtt geschehen. Wer aber hierinn sein Urtheil nicht zu rathe zieht, der wird handgreiflich verstoßen. Die göttliche Macht erstreckt sich auf alles mögliche, aber auf nichts un- mögliches; daher muß man sich nicht auf sie beruffen, seine ungereimte Einfälle zu rechtfertigen. Der Schild Achillis, den Homerus beschreibt, gehört unter diese Classe: denn weil es nicht möglich ist, so viel seltsame und wiedersinnische Dinge auf eine Fläche von der Größe und Beschaffenheit zu bringen: So sollte auch Vulcans Kunst nicht zu Beschei- nigung eines solchen falschen Wunders gebraucht worden seyn; wie im folgenden Capitel ausführlicher soll gezeiget werden. Virgil ist auch voll solcher Wunder, die nicht zum besten angebracht, oder übel ausgesonnen sind. Die ge- strandeten Schiffe verwandeln sich in Seenymphen. Ein Baum läßt Blut fließen, da ihm in die Rinde gehauen wird, und derjenige, so darunter begraben liegt und halb verfault ist, muß anfangen zu reden. Aus dem Baume im Eingange der Höllen ist ein güldner Ast gewachsen. Die Vögel pro- phezeyhen mit menschlicher Stimme und Sprache u. a. m. Alle diese Wunder sind entweder ohne Noth, oder nicht mit genugsamer Wahrscheinlichkeit erdacht.
Was die heydnischen Poeten von ihren Göttern vor Wunderdinge geschehen lassen; das haben die Christlichen Dichter den Engeln und Teufeln zugeschrieben. Daher
kom-
Das V. Capitel
Jch fahre fort zu den andern Arten des Wunderbaren ſo von den Goͤttern herruͤhret; und das ſind die Wunder- wercke ſo durch ihre unmittelbare Wirckung geſchehen. Die Poeten haben ſich derſelben in Heldengedichten und Tragoͤdien ſehr haͤufig bedienet, ſind aber nicht allezeit gluͤck- lich damit geweſen. Ovidius hat gar ein gantzes Buch mit ſolchen poetiſchen Wundern angefuͤllet, und die Sache aufs hoͤchſte getrieben: So daß ſeine Verwandlungen auch bey den Heyden ſelbſt alle Wahrſcheinlichkeit uͤberſtiegen haben. Es iſt wahr, daß man in allen Religionen den Goͤttern und Geiſtern mehr Macht zugeſtanden als bloßen Menſchen, und daß es daher ſo ungereimt nicht iſt, in Faͤllen wo ſichs der Muͤhe verlohnet, zu dichten, es waͤre ein Wunderwerck von GOtt geſchehen. Wer aber hierinn ſein Urtheil nicht zu rathe zieht, der wird handgreiflich verſtoßen. Die goͤttliche Macht erſtreckt ſich auf alles moͤgliche, aber auf nichts un- moͤgliches; daher muß man ſich nicht auf ſie beruffen, ſeine ungereimte Einfaͤlle zu rechtfertigen. Der Schild Achillis, den Homerus beſchreibt, gehoͤrt unter dieſe Claſſe: denn weil es nicht moͤglich iſt, ſo viel ſeltſame und wiederſinniſche Dinge auf eine Flaͤche von der Groͤße und Beſchaffenheit zu bringen: So ſollte auch Vulcans Kunſt nicht zu Beſchei- nigung eines ſolchen falſchen Wunders gebraucht worden ſeyn; wie im folgenden Capitel ausfuͤhrlicher ſoll gezeiget werden. Virgil iſt auch voll ſolcher Wunder, die nicht zum beſten angebracht, oder uͤbel ausgeſonnen ſind. Die ge- ſtrandeten Schiffe verwandeln ſich in Seenymphen. Ein Baum laͤßt Blut fließen, da ihm in die Rinde gehauen wird, und derjenige, ſo darunter begraben liegt und halb verfault iſt, muß anfangen zu reden. Aus dem Baume im Eingange der Hoͤllen iſt ein guͤldner Aſt gewachſen. Die Voͤgel pro- phezeyhen mit menſchlicher Stimme und Sprache u. a. m. Alle dieſe Wunder ſind entweder ohne Noth, oder nicht mit genugſamer Wahrſcheinlichkeit erdacht.
Was die heydniſchen Poeten von ihren Goͤttern vor Wunderdinge geſchehen laſſen; das haben die Chriſtlichen Dichter den Engeln und Teufeln zugeſchrieben. Daher
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Das V. Capitel
Jch fahre fort zu den andern Arten des Wunderbaren
ſo von den Goͤttern herruͤhret; und das ſind die Wunder-
wercke ſo durch ihre unmittelbare Wirckung geſchehen.
Die Poeten haben ſich derſelben in Heldengedichten und
Tragoͤdien ſehr haͤufig bedienet, ſind aber nicht allezeit gluͤck-
lich damit geweſen. Ovidius hat gar ein gantzes Buch mit
ſolchen poetiſchen Wundern angefuͤllet, und die Sache aufs
hoͤchſte getrieben: So daß ſeine Verwandlungen auch bey
den Heyden ſelbſt alle Wahrſcheinlichkeit uͤberſtiegen haben.
Es iſt wahr, daß man in allen Religionen den Goͤttern und
Geiſtern mehr Macht zugeſtanden als bloßen Menſchen, und
daß es daher ſo ungereimt nicht iſt, in Faͤllen wo ſichs der
Muͤhe verlohnet, zu dichten, es waͤre ein Wunderwerck von
GOtt geſchehen. Wer aber hierinn ſein Urtheil nicht zu
rathe zieht, der wird handgreiflich verſtoßen. Die goͤttliche
Macht erſtreckt ſich auf alles moͤgliche, aber auf nichts un-
moͤgliches; daher muß man ſich nicht auf ſie beruffen, ſeine
ungereimte Einfaͤlle zu rechtfertigen. Der Schild Achillis,
den Homerus beſchreibt, gehoͤrt unter dieſe Claſſe: denn
weil es nicht moͤglich iſt, ſo viel ſeltſame und wiederſinniſche
Dinge auf eine Flaͤche von der Groͤße und Beſchaffenheit
zu bringen: So ſollte auch Vulcans Kunſt nicht zu Beſchei-
nigung eines ſolchen falſchen Wunders gebraucht worden
ſeyn; wie im folgenden Capitel ausfuͤhrlicher ſoll gezeiget
werden. Virgil iſt auch voll ſolcher Wunder, die nicht zum
beſten angebracht, oder uͤbel ausgeſonnen ſind. Die ge-
ſtrandeten Schiffe verwandeln ſich in Seenymphen. Ein
Baum laͤßt Blut fließen, da ihm in die Rinde gehauen wird,
und derjenige, ſo darunter begraben liegt und halb verfault
iſt, muß anfangen zu reden. Aus dem Baume im Eingange
der Hoͤllen iſt ein guͤldner Aſt gewachſen. Die Voͤgel pro-
phezeyhen mit menſchlicher Stimme und Sprache u. a. m.
Alle dieſe Wunder ſind entweder ohne Noth, oder nicht mit
genugſamer Wahrſcheinlichkeit erdacht.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/178>, abgerufen am 24.11.2024.
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