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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wunderbahren in der Poesie.
Helicon zu verlassen und Viehhirtinnen zu werden? Große
Leute fehlen auch; aber ihr Versehen muß uns behutsam
machen.

Wir kommen auf die prophetischen Sachen, darinn
manchmahl ein Poet etwas künftiges vorher sagt. Hier
fragt sichs, ob man es von den Musen fordern könne, dem
Poeten dergleichen bevorstehende weitentfernete Begeben-
heiten vorherzusagen? Die Mythologie lehret aber nir-
gends, daß sie Sybillen oder Wahrsagerinnen gewesen,
folglich muß ein Dichter der was prophezeyhen will, den A-
pollo zu Hülfe ruffen, und diesen weissagenden GOtt um
die Offenbarung des Zukünftigen anruffen. Und aus die-
sem Grunde kan abermahl Virgil eines Fehlers beschuldiget
werden, weil er in der IVten Ecloge die Sicilianischen Mu-
sen, das ist die Schäfer-Musen des Theocritus im Anfange
des Gedichtes anruffet, etwas höhers hören zu lassen, als sie
sonst gewohnt wären.

Sicelides Musae paullo maiora canamus,
Non omnes arbusta iuuant humilesque myricae.

Denn zu geschweigen, daß die Schäfer-Musen auf ihren
Haberröhren und Schalmeyen unmöglich einen Trompeten-
Klang erzwingen können, und er also die Calliope als eine
Helden-Muse hätte anruffen müssen: So zeiget auch der
Verfolg der Ecloge, daß dieses hohe, so er von ihr fordert,
nichts anders als eine Prophezeyung von den bevorstehenden
glückseeligen Zeiten gewesen; die allen Criticis so viel
Schwierigkeiten gemacht hat. Wie haben die Musen ihm
dieses immermehr einzugeben vermocht? Wie sind sie auf
einmahl zu Prophetinnen geworden, und der Pythia ins
Amt gefallen? Wenn man dichten könnte was sich nicht mit
einander reimet, so könnte mans auch keinem Mahler ver-
übeln, wenn er auf einen Pferdehals einen Menschenkopf
setzen, Flügel anfügen und endlich einen Fischschwantz dazu
mahlen wollte: Welches doch alle Welt mit Horatio vor
auslachenswürdig erklären würde. Was noch sonst bey
Anruffung der Gottheiten in den Heldengedichten ins beson-
dre zu sagen ist, soll an gehörigem Orte vorkommen.

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K 3

Von dem Wunderbahren in der Poeſie.
Helicon zu verlaſſen und Viehhirtinnen zu werden? Große
Leute fehlen auch; aber ihr Verſehen muß uns behutſam
machen.

Wir kommen auf die prophetiſchen Sachen, darinn
manchmahl ein Poet etwas kuͤnftiges vorher ſagt. Hier
fragt ſichs, ob man es von den Muſen fordern koͤnne, dem
Poeten dergleichen bevorſtehende weitentfernete Begeben-
heiten vorherzuſagen? Die Mythologie lehret aber nir-
gends, daß ſie Sybillen oder Wahrſagerinnen geweſen,
folglich muß ein Dichter der was prophezeyhen will, den A-
pollo zu Huͤlfe ruffen, und dieſen weiſſagenden GOtt um
die Offenbarung des Zukuͤnftigen anruffen. Und aus die-
ſem Grunde kan abermahl Virgil eines Fehlers beſchuldiget
werden, weil er in der IVten Ecloge die Sicilianiſchen Mu-
ſen, das iſt die Schaͤfer-Muſen des Theocritus im Anfange
des Gedichtes anruffet, etwas hoͤhers hoͤren zu laſſen, als ſie
ſonſt gewohnt waͤren.

Sicelides Muſae paullo maiora canamus,
Non omnes arbuſta iuuant humilesque myricae.

Denn zu geſchweigen, daß die Schaͤfer-Muſen auf ihren
Haberroͤhren und Schalmeyen unmoͤglich einen Trompeten-
Klang erzwingen koͤnnen, und er alſo die Calliope als eine
Helden-Muſe haͤtte anruffen muͤſſen: So zeiget auch der
Verfolg der Ecloge, daß dieſes hohe, ſo er von ihr fordert,
nichts anders als eine Prophezeyung von den bevorſtehenden
gluͤckſeeligen Zeiten geweſen; die allen Criticis ſo viel
Schwierigkeiten gemacht hat. Wie haben die Muſen ihm
dieſes immermehr einzugeben vermocht? Wie ſind ſie auf
einmahl zu Prophetinnen geworden, und der Pythia ins
Amt gefallen? Wenn man dichten koͤnnte was ſich nicht mit
einander reimet, ſo koͤnnte mans auch keinem Mahler ver-
uͤbeln, wenn er auf einen Pferdehals einen Menſchenkopf
ſetzen, Fluͤgel anfuͤgen und endlich einen Fiſchſchwantz dazu
mahlen wollte: Welches doch alle Welt mit Horatio vor
auslachenswuͤrdig erklaͤren wuͤrde. Was noch ſonſt bey
Anruffung der Gottheiten in den Heldengedichten ins beſon-
dre zu ſagen iſt, ſoll an gehoͤrigem Orte vorkommen.

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[149/0177] Von dem Wunderbahren in der Poeſie. Helicon zu verlaſſen und Viehhirtinnen zu werden? Große Leute fehlen auch; aber ihr Verſehen muß uns behutſam machen. Wir kommen auf die prophetiſchen Sachen, darinn manchmahl ein Poet etwas kuͤnftiges vorher ſagt. Hier fragt ſichs, ob man es von den Muſen fordern koͤnne, dem Poeten dergleichen bevorſtehende weitentfernete Begeben- heiten vorherzuſagen? Die Mythologie lehret aber nir- gends, daß ſie Sybillen oder Wahrſagerinnen geweſen, folglich muß ein Dichter der was prophezeyhen will, den A- pollo zu Huͤlfe ruffen, und dieſen weiſſagenden GOtt um die Offenbarung des Zukuͤnftigen anruffen. Und aus die- ſem Grunde kan abermahl Virgil eines Fehlers beſchuldiget werden, weil er in der IVten Ecloge die Sicilianiſchen Mu- ſen, das iſt die Schaͤfer-Muſen des Theocritus im Anfange des Gedichtes anruffet, etwas hoͤhers hoͤren zu laſſen, als ſie ſonſt gewohnt waͤren. Sicelides Muſae paullo maiora canamus, Non omnes arbuſta iuuant humilesque myricae. Denn zu geſchweigen, daß die Schaͤfer-Muſen auf ihren Haberroͤhren und Schalmeyen unmoͤglich einen Trompeten- Klang erzwingen koͤnnen, und er alſo die Calliope als eine Helden-Muſe haͤtte anruffen muͤſſen: So zeiget auch der Verfolg der Ecloge, daß dieſes hohe, ſo er von ihr fordert, nichts anders als eine Prophezeyung von den bevorſtehenden gluͤckſeeligen Zeiten geweſen; die allen Criticis ſo viel Schwierigkeiten gemacht hat. Wie haben die Muſen ihm dieſes immermehr einzugeben vermocht? Wie ſind ſie auf einmahl zu Prophetinnen geworden, und der Pythia ins Amt gefallen? Wenn man dichten koͤnnte was ſich nicht mit einander reimet, ſo koͤnnte mans auch keinem Mahler ver- uͤbeln, wenn er auf einen Pferdehals einen Menſchenkopf ſetzen, Fluͤgel anfuͤgen und endlich einen Fiſchſchwantz dazu mahlen wollte: Welches doch alle Welt mit Horatio vor auslachenswuͤrdig erklaͤren wuͤrde. Was noch ſonſt bey Anruffung der Gottheiten in den Heldengedichten ins beſon- dre zu ſagen iſt, ſoll an gehoͤrigem Orte vorkommen. Jch K 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/177>, abgerufen am 22.11.2024.