geht, und also seinem Volcke die Gesundheit wieder herstel- let. Wer sieht hier nicht, daß beyde Fabeln vollkommen moralisch sind, und die wichtigsten Lehren in sich fassen; wenn man sie gleich nur überhaupt ansieht, und der überall eingestreuten Sittensprüche nicht einmahl wahrnimmt. Ein jeder der nur seinen eigenen Augen trauet, wird also keines fernern Beweises nöthig haben, und die Einwürfe selbst be- antworten können, die le Clerc in seinen Parrhasianis da- wieder gemacht, und ich vor den Pietschischen Gedichten, ins Deutsche übersetzt, herausgegeben.
Wie greift man indessen die Sache an, wenn man ge- sonnen ist, als ein Poet ein Gedichte oder eine Fabel zu ma- chen? Dieses ist freylich das Hauptwerck in der ganzen Poesie, und also muß es in diesem Capitel nicht vergessen werden. Vielen, die sonst ein gutes Naturell zur Poesie gehabt, ist es blos deswegen nicht gelungen, weil sie es in der Fabel versehen haben. So viel schlechte Heldengedichte, Tragödien, Comödien und Romane sind gemeiniglich nur in diesem Stücke mangelhafft: so vieler kleinern Fabeln, in andern Gattungen der Poesie, voritzo nicht zu gedencken. Es ist also der Mühe schon werth daß wir uns bekümmern wie man alle Arten der Fabeln erfinden und regelmäßig ein- richten könne.
Zu allererst wehle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem gantzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine gantz allge- meine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkommt, daran dieser erwehlte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sin- ne fällt. Z. E. Jch wollte einem jungen Prinzen die Wahr- heit beybringen: Ungerechtigkeit und Gewaltthätigkeit sey ein abscheulich Laster. Diesen Satz recht sinnlich und auf eine angenehme Art fast handgreiflich zu machen, erdencke ich folgende allgemeine Begebenheit, so sich dazu schicket, indem man daraus die Abscheulichkeit des gedachten Lasters Son- nen-klar sehen kan. Es war jemand, wird es heißen, der schwach und unvermögend war, der Gewalt eines mächti-
gern
J 3
Von den Poetiſchen Nachahmungen.
geht, und alſo ſeinem Volcke die Geſundheit wieder herſtel- let. Wer ſieht hier nicht, daß beyde Fabeln vollkommen moraliſch ſind, und die wichtigſten Lehren in ſich faſſen; wenn man ſie gleich nur uͤberhaupt anſieht, und der uͤberall eingeſtreuten Sittenſpruͤche nicht einmahl wahrnimmt. Ein jeder der nur ſeinen eigenen Augen trauet, wird alſo keines fernern Beweiſes noͤthig haben, und die Einwuͤrfe ſelbſt be- antworten koͤnnen, die le Clerc in ſeinen Parrhaſianis da- wieder gemacht, und ich vor den Pietſchiſchen Gedichten, ins Deutſche uͤberſetzt, herausgegeben.
Wie greift man indeſſen die Sache an, wenn man ge- ſonnen iſt, als ein Poet ein Gedichte oder eine Fabel zu ma- chen? Dieſes iſt freylich das Hauptwerck in der ganzen Poeſie, und alſo muß es in dieſem Capitel nicht vergeſſen werden. Vielen, die ſonſt ein gutes Naturell zur Poeſie gehabt, iſt es blos deswegen nicht gelungen, weil ſie es in der Fabel verſehen haben. So viel ſchlechte Heldengedichte, Tragoͤdien, Comoͤdien und Romane ſind gemeiniglich nur in dieſem Stuͤcke mangelhafft: ſo vieler kleinern Fabeln, in andern Gattungen der Poeſie, voritzo nicht zu gedencken. Es iſt alſo der Muͤhe ſchon werth daß wir uns bekuͤmmern wie man alle Arten der Fabeln erfinden und regelmaͤßig ein- richten koͤnne.
Zu allererſt wehle man ſich einen lehrreichen moraliſchen Satz, der in dem gantzen Gedichte zum Grunde liegen ſoll, nach Beſchaffenheit der Abſichten, die man ſich zu erlangen vorgenommen. Hierzu erſinne man ſich eine gantz allge- meine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkommt, daran dieſer erwehlte Lehrſatz ſehr augenſcheinlich in die Sin- ne faͤllt. Z. E. Jch wollte einem jungen Prinzen die Wahr- heit beybringen: Ungerechtigkeit und Gewaltthaͤtigkeit ſey ein abſcheulich Laſter. Dieſen Satz recht ſinnlich und auf eine angenehme Art faſt handgreiflich zu machen, erdencke ich folgende allgemeine Begebenheit, ſo ſich dazu ſchicket, indem man daraus die Abſcheulichkeit des gedachten Laſters Son- nen-klar ſehen kan. Es war jemand, wird es heißen, der ſchwach und unvermoͤgend war, der Gewalt eines maͤchti-
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Von den Poetiſchen Nachahmungen.
geht, und alſo ſeinem Volcke die Geſundheit wieder herſtel-
let. Wer ſieht hier nicht, daß beyde Fabeln vollkommen
moraliſch ſind, und die wichtigſten Lehren in ſich faſſen;
wenn man ſie gleich nur uͤberhaupt anſieht, und der uͤberall
eingeſtreuten Sittenſpruͤche nicht einmahl wahrnimmt. Ein
jeder der nur ſeinen eigenen Augen trauet, wird alſo keines
fernern Beweiſes noͤthig haben, und die Einwuͤrfe ſelbſt be-
antworten koͤnnen, die le Clerc in ſeinen Parrhaſianis da-
wieder gemacht, und ich vor den Pietſchiſchen Gedichten, ins
Deutſche uͤberſetzt, herausgegeben.
Wie greift man indeſſen die Sache an, wenn man ge-
ſonnen iſt, als ein Poet ein Gedichte oder eine Fabel zu ma-
chen? Dieſes iſt freylich das Hauptwerck in der ganzen
Poeſie, und alſo muß es in dieſem Capitel nicht vergeſſen
werden. Vielen, die ſonſt ein gutes Naturell zur Poeſie
gehabt, iſt es blos deswegen nicht gelungen, weil ſie es in der
Fabel verſehen haben. So viel ſchlechte Heldengedichte,
Tragoͤdien, Comoͤdien und Romane ſind gemeiniglich nur
in dieſem Stuͤcke mangelhafft: ſo vieler kleinern Fabeln, in
andern Gattungen der Poeſie, voritzo nicht zu gedencken.
Es iſt alſo der Muͤhe ſchon werth daß wir uns bekuͤmmern
wie man alle Arten der Fabeln erfinden und regelmaͤßig ein-
richten koͤnne.
Zu allererſt wehle man ſich einen lehrreichen moraliſchen
Satz, der in dem gantzen Gedichte zum Grunde liegen ſoll,
nach Beſchaffenheit der Abſichten, die man ſich zu erlangen
vorgenommen. Hierzu erſinne man ſich eine gantz allge-
meine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkommt,
daran dieſer erwehlte Lehrſatz ſehr augenſcheinlich in die Sin-
ne faͤllt. Z. E. Jch wollte einem jungen Prinzen die Wahr-
heit beybringen: Ungerechtigkeit und Gewaltthaͤtigkeit ſey
ein abſcheulich Laſter. Dieſen Satz recht ſinnlich und auf
eine angenehme Art faſt handgreiflich zu machen, erdencke
ich folgende allgemeine Begebenheit, ſo ſich dazu ſchicket, indem
man daraus die Abſcheulichkeit des gedachten Laſters Son-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/161>, abgerufen am 24.11.2024.
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