Grolls vergessen, und also den Trojanern großen Abbruch gethan. Diese Fabel war zulänglich, die moralische Wahr- heit von der schädlichen Uneinigkeit benachbarter Staaten, die Homerus in seinem Gedichte lehren wollen, in ein völliges Licht zu setzen. Es war dabey nicht nöthig, den Ursprung des Trojanischen Krieges oder den Ausgang desselben zu zei- gen; vielweniger von den beyden Eyern der Leda anzufan- gen, aus deren einem die Helena, die einzige Ursache des Krieges, war gebohren worden. Dieses wäre eine gar zu große Fabel geworden, und Horatz lobt deswegen Home- rum, daß er solches nicht gethan.
Nec reditum Diomedis ab interitu Meleagri, Nec gemino bellum Trojanum orditur ab ouo. Semper ad eventum festinat.
Diejenigen Poeten haben also keinen rechten Begriff von der Fabel gehabt, die sich eingebildet, sie müsse so vollständig seyn, daß weder forne noch hinten das geringste daran fehle. Dahin gehört Statius, der den gantzen Lebenslauf Achillis in ein Gedichte gebracht, und bey den Griechen der Ver- fasser der kleinen Jlias, dessen Aristoteles gedencket; wel- cher gleichfalls den gantzen Trojanischen Krieg in eins gezo- gen, davon uns die große Jlias nur ein Stücke von andert- halb Monaten erzehlet. Vielweniger werden die Ver- wandlungen Ovidii vor ein einzig Gedichte können angese- hen werden, als worinn eben so wenig als in den Esopischen Fabeln eine einzige moralische Fabel zum Grunde liegt. Die Jlias ist einem königlichen Pallaste, voller Zusammen- hang, Ordnung und Schönheit gleich: die Verwandlun- gen Ovidii sind einer gantzen Stadt zu vergleichen, die aus so viel Bürgerhäusern zusammengesetzt ist, als Fabeln sie enthält; welche nicht mehr Verknüpfung mit einander haben, als daß sie aneinander stoßen und mit einer Ring- mauer umgeben sind. Die Esopischen Fabeln könnte man nach eben dieser Allegorie ein großes Dorf nennen, darinn jede Fabel eine Bauerhütte vorstellet, die eben soviel Thiere als Menschen in sich zu halten pflegen.
Noch eine Abtheilung der Fabeln ist nöthig anzumer-
cken,
Das IV. Capitel
Grolls vergeſſen, und alſo den Trojanern großen Abbruch gethan. Dieſe Fabel war zulaͤnglich, die moraliſche Wahr- heit von der ſchaͤdlichen Uneinigkeit benachbarter Staaten, die Homerus in ſeinem Gedichte lehren wollen, in ein voͤlliges Licht zu ſetzen. Es war dabey nicht noͤthig, den Urſprung des Trojaniſchen Krieges oder den Ausgang deſſelben zu zei- gen; vielweniger von den beyden Eyern der Leda anzufan- gen, aus deren einem die Helena, die einzige Urſache des Krieges, war gebohren worden. Dieſes waͤre eine gar zu große Fabel geworden, und Horatz lobt deswegen Home- rum, daß er ſolches nicht gethan.
Nec reditum Diomedis ab interitu Meleagri, Nec gemino bellum Trojanum orditur ab ouo. Semper ad eventum feſtinat.
Diejenigen Poeten haben alſo keinen rechten Begriff von der Fabel gehabt, die ſich eingebildet, ſie muͤſſe ſo vollſtaͤndig ſeyn, daß weder forne noch hinten das geringſte daran fehle. Dahin gehoͤrt Statius, der den gantzen Lebenslauf Achillis in ein Gedichte gebracht, und bey den Griechen der Ver- faſſer der kleinen Jlias, deſſen Ariſtoteles gedencket; wel- cher gleichfalls den gantzen Trojaniſchen Krieg in eins gezo- gen, davon uns die große Jlias nur ein Stuͤcke von andert- halb Monaten erzehlet. Vielweniger werden die Ver- wandlungen Ovidii vor ein einzig Gedichte koͤnnen angeſe- hen werden, als worinn eben ſo wenig als in den Eſopiſchen Fabeln eine einzige moraliſche Fabel zum Grunde liegt. Die Jlias iſt einem koͤniglichen Pallaſte, voller Zuſammen- hang, Ordnung und Schoͤnheit gleich: die Verwandlun- gen Ovidii ſind einer gantzen Stadt zu vergleichen, die aus ſo viel Buͤrgerhaͤuſern zuſammengeſetzt iſt, als Fabeln ſie enthaͤlt; welche nicht mehr Verknuͤpfung mit einander haben, als daß ſie aneinander ſtoßen und mit einer Ring- mauer umgeben ſind. Die Eſopiſchen Fabeln koͤnnte man nach eben dieſer Allegorie ein großes Dorf nennen, darinn jede Fabel eine Bauerhuͤtte vorſtellet, die eben ſoviel Thiere als Menſchen in ſich zu halten pflegen.
Noch eine Abtheilung der Fabeln iſt noͤthig anzumer-
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Das IV. Capitel
Grolls vergeſſen, und alſo den Trojanern großen Abbruch
gethan. Dieſe Fabel war zulaͤnglich, die moraliſche Wahr-
heit von der ſchaͤdlichen Uneinigkeit benachbarter Staaten,
die Homerus in ſeinem Gedichte lehren wollen, in ein voͤlliges
Licht zu ſetzen. Es war dabey nicht noͤthig, den Urſprung
des Trojaniſchen Krieges oder den Ausgang deſſelben zu zei-
gen; vielweniger von den beyden Eyern der Leda anzufan-
gen, aus deren einem die Helena, die einzige Urſache des
Krieges, war gebohren worden. Dieſes waͤre eine gar zu
große Fabel geworden, und Horatz lobt deswegen Home-
rum, daß er ſolches nicht gethan.
Nec reditum Diomedis ab interitu Meleagri,
Nec gemino bellum Trojanum orditur ab ouo.
Semper ad eventum feſtinat.
Diejenigen Poeten haben alſo keinen rechten Begriff von
der Fabel gehabt, die ſich eingebildet, ſie muͤſſe ſo vollſtaͤndig
ſeyn, daß weder forne noch hinten das geringſte daran fehle.
Dahin gehoͤrt Statius, der den gantzen Lebenslauf Achillis
in ein Gedichte gebracht, und bey den Griechen der Ver-
faſſer der kleinen Jlias, deſſen Ariſtoteles gedencket; wel-
cher gleichfalls den gantzen Trojaniſchen Krieg in eins gezo-
gen, davon uns die große Jlias nur ein Stuͤcke von andert-
halb Monaten erzehlet. Vielweniger werden die Ver-
wandlungen Ovidii vor ein einzig Gedichte koͤnnen angeſe-
hen werden, als worinn eben ſo wenig als in den Eſopiſchen
Fabeln eine einzige moraliſche Fabel zum Grunde liegt.
Die Jlias iſt einem koͤniglichen Pallaſte, voller Zuſammen-
hang, Ordnung und Schoͤnheit gleich: die Verwandlun-
gen Ovidii ſind einer gantzen Stadt zu vergleichen, die aus
ſo viel Buͤrgerhaͤuſern zuſammengeſetzt iſt, als Fabeln ſie
enthaͤlt; welche nicht mehr Verknuͤpfung mit einander
haben, als daß ſie aneinander ſtoßen und mit einer Ring-
mauer umgeben ſind. Die Eſopiſchen Fabeln koͤnnte man
nach eben dieſer Allegorie ein großes Dorf nennen, darinn
jede Fabel eine Bauerhuͤtte vorſtellet, die eben ſoviel Thiere
als Menſchen in ſich zu halten pflegen.
Noch eine Abtheilung der Fabeln iſt noͤthig anzumer-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/158>, abgerufen am 24.11.2024.
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