Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Das III. Capitel deren wir uns nicht rühmen können. Sie sind das gescheu-teste Volck auf dem Erdboden gewesen, so sich zu allererst aus der finstern Barbarey gerissen. Sie sind die Erfinder aller freyen Künste und Wissenschafften. Von ihnen haben alle andre wohlgesittete Völcker ihre Gesetze, Philosophie, Artz- neykunst, Beredsamkeit, Poesie, Baukunst, Mahlerey und Music gelernet, so vieler andern Künste zu geschweigen. Könnten wir eben das von uns rühmen, so möchten wir uns etwa ihrem Geschmacke wiedersetzen dörfen; müsten aber wohl zusehen, daß wir es nicht ohne Grund thäten. Da wir nun vermuthlich noch in der Barbarey stecken würden, wenn uns nicht die Griechischen Bücher die Augen aufgethan hät- ten; da wir alle Wissenschafften und freye Künste von ihnen gefasset: Was vor ein Recht haben wir denn wohl, uns wie- der unsre Lehrmeister aufzulehnen? Ja, wird man sprechen: Weil uns vieles gefällt, was
Jch antworte, freylich entsteht das Wohlgefallen allezeit aus da
Das III. Capitel deren wir uns nicht ruͤhmen koͤnnen. Sie ſind das geſcheu-teſte Volck auf dem Erdboden geweſen, ſo ſich zu allererſt aus der finſtern Barbarey geriſſen. Sie ſind die Erfinder aller freyen Kuͤnſte und Wiſſenſchafften. Von ihnen haben alle andre wohlgeſittete Voͤlcker ihre Geſetze, Philoſophie, Artz- neykunſt, Beredſamkeit, Poeſie, Baukunſt, Mahlerey und Muſic gelernet, ſo vieler andern Kuͤnſte zu geſchweigen. Koͤnnten wir eben das von uns ruͤhmen, ſo moͤchten wir uns etwa ihrem Geſchmacke wiederſetzen doͤrfen; muͤſten aber wohl zuſehen, daß wir es nicht ohne Grund thaͤten. Da wir nun vermuthlich noch in der Barbarey ſtecken wuͤrden, wenn uns nicht die Griechiſchen Buͤcher die Augen aufgethan haͤt- ten; da wir alle Wiſſenſchafften und freye Kuͤnſte von ihnen gefaſſet: Was vor ein Recht haben wir denn wohl, uns wie- der unſre Lehrmeiſter aufzulehnen? Ja, wird man ſprechen: Weil uns vieles gefaͤllt, was
Jch antworte, freylich entſteht das Wohlgefallen allezeit aus da
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Das III. Capitel
deren wir uns nicht ruͤhmen koͤnnen. Sie ſind das geſcheu-
teſte Volck auf dem Erdboden geweſen, ſo ſich zu allererſt aus
der finſtern Barbarey geriſſen. Sie ſind die Erfinder aller
freyen Kuͤnſte und Wiſſenſchafften. Von ihnen haben alle
andre wohlgeſittete Voͤlcker ihre Geſetze, Philoſophie, Artz-
neykunſt, Beredſamkeit, Poeſie, Baukunſt, Mahlerey
und Muſic gelernet, ſo vieler andern Kuͤnſte zu geſchweigen.
Koͤnnten wir eben das von uns ruͤhmen, ſo moͤchten wir uns
etwa ihrem Geſchmacke wiederſetzen doͤrfen; muͤſten aber
wohl zuſehen, daß wir es nicht ohne Grund thaͤten. Da wir
nun vermuthlich noch in der Barbarey ſtecken wuͤrden, wenn
uns nicht die Griechiſchen Buͤcher die Augen aufgethan haͤt-
ten; da wir alle Wiſſenſchafften und freye Kuͤnſte von ihnen
gefaſſet: Was vor ein Recht haben wir denn wohl, uns wie-
der unſre Lehrmeiſter aufzulehnen?
Ja, wird man ſprechen: Weil uns vieles gefaͤllt, was
jenen Alten nicht gefallen, und doch das Gefaͤllige allezeit eine
Schoͤnheit zum Grunde hat; ſo fragt ſichs, ob es nicht noch
andre wirckliche Schoͤnheiten in Kunſtwercken geben koͤnne,
als die den Alten bekannt geweſen? Die Erfahrung zeigt aber
allerdings, daß es dergleichen gebe.
Non eadem miramur: eo disconvenit inter
Meque & te. Nam quae deſerta & inhoſpita tesqua
Credis, amoena vocat, mecum qui ſentit; & odit
Quae tu pulcra putas. Hor. L. I. Ep. XIV.
Jch antworte, freylich entſteht das Wohlgefallen allezeit aus
der Empfindung einer Schoͤnheit. Aber es giebt wahre, es
giebt auch eingebildete Schoͤnheiten. Dieſe erwecken freylich
bey vielen eine Beluſtigung: aber nur ſo lange, als ſie dieſel-
ben vor Schoͤnheiten anſehen. Offtmahls lernen ſie begrei-
fen, daß ſie ſich in ihrem Urtheile betrogen; und alsdann
erwecket ihnen dasjenige Verdruß, was ihnen vorher wohl-
gefiel. Von ferne ſieht offt eine Perſon ſehr wohl aus; wenn
wir ſie aber in der Naͤhe erblicken, iſt ſie heßlich. Aus der
Baukunſt, Muſic und Mahlerey kan man hier unzehlige Er-
laͤuterungen geben. Wie offt gefaͤllt hier nicht einem unwiſſen-
den Schuͤler etwas, ſo einem Kenner mißfaͤllt? Haben denn
da
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