der Natur. Man nahm wahr, wo Ubereinstimmung und Ordnung eine Vollkommenheit zuwege brachte; und wo hingegen eine Verwirrung wiederwärtiger Dinge einen Ubelstand erweckte. Die Tiefsinnigsten unter ihnen brachten aus genauer Betrachtung wohlgerathener Meisterstücke, die Regeln heraus, aus welchen alle ihre Schönheit den Ur- sprung hatte. Und wie also dieselben nicht bloße Hirngespinste waren, sondern aus wircklichen Exempeln, die nach dem Urtheile der klügsten Köpfe vor schön befunden worden, ent- worfen waren: Also hat man zu aller Zeit gesehen, daß die Regeln der Griechen, in allen freyen Künsten, die beste Anlei- tung zum guten Geschmacke gewesen sind.
Was ich hier von den Griechen gesagt, kan auch mit gehöriger Veränderung von Römern gesagt werden. Der Unterscheid ist dieser, daß sie ihren guten Geschmack den Griechen zu dancken gehabt, und wie sie denselben spät be- kommen, also auch nur kurtze Zeit erhalten haben. Nachdem aber die barbarischen Vöcker den gantzen Occident mit einem verderbten Geschmacke erfüllet hatten: sind abermahl die Griechen die einzigen gewesen, die den guten Geschmack in Jtalien wieder hergestellet haben. Von da hat er sich nach Franckreich, Deutschland, Holl- und Engelland ausgebreitet, doch kaum irgendwo die völlige Oberhand bekommen können. Das sicherste Mittel ist also denselben zu erhalten, wenn man sich an die Regeln hält, die uns von den Kunst-verständigen Meistern der Alten übrig geblieben. Wenn man die Reste von ihren Meisterstücken dargegen hält, wird man gewiß finden, daß sie eine Schönheit an sich haben, die der Ver- nunft nothwendig gefallen muß, wennn sie nur nicht in Vor- urtheilen ersoffen, und in ihre eigene Misgeburten allbereit verliebet ist.
Wie aber? Soll man sich denn immer mit Regeln schleppen, wenn man den guten Geschmack haben will? Das ist eine neue Frage. Nicht alle die den guten Geschmack haben wollen; sondern nur die, so ihn wieder herstellen wollen, müssen die Regeln derjenigen freyen Künste einsehen, darinn sie was verbessern wollen. Es darf nur ein geschickter Kopf
kom-
Das III. Capitel
der Natur. Man nahm wahr, wo Ubereinſtimmung und Ordnung eine Vollkommenheit zuwege brachte; und wo hingegen eine Verwirrung wiederwaͤrtiger Dinge einen Ubelſtand erweckte. Die Tiefſinnigſten unter ihnen brachten aus genauer Betrachtung wohlgerathener Meiſterſtuͤcke, die Regeln heraus, aus welchen alle ihre Schoͤnheit den Ur- ſprung hatte. Und wie alſo dieſelben nicht bloße Hirngeſpinſte waren, ſondern aus wircklichen Exempeln, die nach dem Urtheile der kluͤgſten Koͤpfe vor ſchoͤn befunden worden, ent- worfen waren: Alſo hat man zu aller Zeit geſehen, daß die Regeln der Griechen, in allen freyen Kuͤnſten, die beſte Anlei- tung zum guten Geſchmacke geweſen ſind.
Was ich hier von den Griechen geſagt, kan auch mit gehoͤriger Veraͤnderung von Roͤmern geſagt werden. Der Unterſcheid iſt dieſer, daß ſie ihren guten Geſchmack den Griechen zu dancken gehabt, und wie ſie denſelben ſpaͤt be- kommen, alſo auch nur kurtze Zeit erhalten haben. Nachdem aber die barbariſchen Voͤcker den gantzen Occident mit einem verderbten Geſchmacke erfuͤllet hatten: ſind abermahl die Griechen die einzigen geweſen, die den guten Geſchmack in Jtalien wieder hergeſtellet haben. Von da hat er ſich nach Franckreich, Deutſchland, Holl- und Engelland ausgebreitet, doch kaum irgendwo die voͤllige Oberhand bekommen koͤnnen. Das ſicherſte Mittel iſt alſo denſelben zu erhalten, wenn man ſich an die Regeln haͤlt, die uns von den Kunſt-verſtaͤndigen Meiſtern der Alten uͤbrig geblieben. Wenn man die Reſte von ihren Meiſterſtuͤcken dargegen haͤlt, wird man gewiß finden, daß ſie eine Schoͤnheit an ſich haben, die der Ver- nunft nothwendig gefallen muß, wennn ſie nur nicht in Vor- urtheilen erſoffen, und in ihre eigene Misgeburten allbereit verliebet iſt.
Wie aber? Soll man ſich denn immer mit Regeln ſchleppen, wenn man den guten Geſchmack haben will? Das iſt eine neue Frage. Nicht alle die den guten Geſchmack haben wollen; ſondern nur die, ſo ihn wieder herſtellen wollen, muͤſſen die Regeln derjenigen freyen Kuͤnſte einſehen, darinn ſie was verbeſſern wollen. Es darf nur ein geſchickter Kopf
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Das III. Capitel
der Natur. Man nahm wahr, wo Ubereinſtimmung und
Ordnung eine Vollkommenheit zuwege brachte; und wo
hingegen eine Verwirrung wiederwaͤrtiger Dinge einen
Ubelſtand erweckte. Die Tiefſinnigſten unter ihnen brachten
aus genauer Betrachtung wohlgerathener Meiſterſtuͤcke, die
Regeln heraus, aus welchen alle ihre Schoͤnheit den Ur-
ſprung hatte. Und wie alſo dieſelben nicht bloße Hirngeſpinſte
waren, ſondern aus wircklichen Exempeln, die nach dem
Urtheile der kluͤgſten Koͤpfe vor ſchoͤn befunden worden, ent-
worfen waren: Alſo hat man zu aller Zeit geſehen, daß die
Regeln der Griechen, in allen freyen Kuͤnſten, die beſte Anlei-
tung zum guten Geſchmacke geweſen ſind.
Was ich hier von den Griechen geſagt, kan auch mit
gehoͤriger Veraͤnderung von Roͤmern geſagt werden. Der
Unterſcheid iſt dieſer, daß ſie ihren guten Geſchmack den
Griechen zu dancken gehabt, und wie ſie denſelben ſpaͤt be-
kommen, alſo auch nur kurtze Zeit erhalten haben. Nachdem
aber die barbariſchen Voͤcker den gantzen Occident mit einem
verderbten Geſchmacke erfuͤllet hatten: ſind abermahl die
Griechen die einzigen geweſen, die den guten Geſchmack in
Jtalien wieder hergeſtellet haben. Von da hat er ſich nach
Franckreich, Deutſchland, Holl- und Engelland ausgebreitet,
doch kaum irgendwo die voͤllige Oberhand bekommen koͤnnen.
Das ſicherſte Mittel iſt alſo denſelben zu erhalten, wenn man
ſich an die Regeln haͤlt, die uns von den Kunſt-verſtaͤndigen
Meiſtern der Alten uͤbrig geblieben. Wenn man die Reſte
von ihren Meiſterſtuͤcken dargegen haͤlt, wird man gewiß
finden, daß ſie eine Schoͤnheit an ſich haben, die der Ver-
nunft nothwendig gefallen muß, wennn ſie nur nicht in Vor-
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verliebet iſt.
Wie aber? Soll man ſich denn immer mit Regeln
ſchleppen, wenn man den guten Geſchmack haben will? Das
iſt eine neue Frage. Nicht alle die den guten Geſchmack haben
wollen; ſondern nur die, ſo ihn wieder herſtellen wollen,
muͤſſen die Regeln derjenigen freyen Kuͤnſte einſehen, darinn
ſie was verbeſſern wollen. Es darf nur ein geſchickter Kopf
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/136>, abgerufen am 24.11.2024.
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