Art der Auferziehung bringt sie allererst ins Geschicke. Sie muß erweckt, angeführt, von Fehlern gesaubert, und auf dem guten Wege so lange erhalten werden, bis sie ihres Thuns gewiß wird. Der Geschmack ist also dem Menschen so was natürliches als seine übrige Gemüths-Kräffte. Ein jeder, der Sinne und Verstand hat, besitzt auch eine Ge- schicklichkeit von der Schönheit empfindlicher Dinge zu urtheilen. Und so lange diese nicht ihre Natur und Eigen- schafften verlieren, wird ein jedes vernünftiges Wesen davon sagen können, ob sie ihm wohl oder übel gefallen.
Man will ferner wissen: Ob gewissen Leuten der gute, andern aber der schlimme Geschmack angebohren sey? Jch antworte eben so wie vorhin. So wenig einem eine gesunde, dem andern eine verderbte Natur angebohren ist: So wenig ist solches auch bey dem Geschmacke zu vermuthen. Die Fähigkeit neugebohrner Kinder ist zu allem gleichgültig. Man kan aus ihnen machen was man will. Erzieht es unter den Bauren, es wird bäurisch dencken und reden; unter den Bürgern, es wird bürgerlich urtheilen; unter Soldaten, es wird kriegerische Dinge im Kopfe haben; unter Gelehrten, es wird nach Art studirter Leute vernünfteln und grübeln; bey Hofe, es wird sich von lauter Lustbarkeiten und Regie- rungs-Sachen Chimären erdencken. Die Kinder sind wie Affen. Wie mans ihnen vormachet, so machen sie es nach. Man lobe in ihrer zarten Jugend etwas; Sie werdens bald hoch schätzen lernen: Man verachte etwas; Sie werdens bald verwerfen lernen. Jhre ersten Urtheile richten sich nach den Urtheilen derer mit denen sie immer umgehen. Der Ausspruch ihrer Eltern oder Wärterinnen ist schon zulänglich ihnen etwas als schön oder heßlich einzuprägen: Zumahl wenn sie mercken, daß man dabey seine Gedancken auf sie nicht richtet, sondern vor sich davon urtheilet. So gewehnet sich allmählig ihr Verstand durch die blosse Nachahmung, dieses weiß und jenes schwartz zu heissen. Und dadurch entste- het entweder ein guter oder übler Geschmack; nachdem dieje- nigen ihn haben, zu deren Schülern sie das Glücke gemacht, ehe sie noch geschickt waren, dieselben vor ihre Lehrer zu erkennen.
So
Das III. Capitel
Art der Auferziehung bringt ſie allererſt ins Geſchicke. Sie muß erweckt, angefuͤhrt, von Fehlern geſaubert, und auf dem guten Wege ſo lange erhalten werden, bis ſie ihres Thuns gewiß wird. Der Geſchmack iſt alſo dem Menſchen ſo was natuͤrliches als ſeine uͤbrige Gemuͤths-Kraͤffte. Ein jeder, der Sinne und Verſtand hat, beſitzt auch eine Ge- ſchicklichkeit von der Schoͤnheit empfindlicher Dinge zu urtheilen. Und ſo lange dieſe nicht ihre Natur und Eigen- ſchafften verlieren, wird ein jedes vernuͤnftiges Weſen davon ſagen koͤnnen, ob ſie ihm wohl oder uͤbel gefallen.
Man will ferner wiſſen: Ob gewiſſen Leuten der gute, andern aber der ſchlimme Geſchmack angebohren ſey? Jch antworte eben ſo wie vorhin. So wenig einem eine geſunde, dem andern eine verderbte Natur angebohren iſt: So wenig iſt ſolches auch bey dem Geſchmacke zu vermuthen. Die Faͤhigkeit neugebohrner Kinder iſt zu allem gleichguͤltig. Man kan aus ihnen machen was man will. Erzieht es unter den Bauren, es wird baͤuriſch dencken und reden; unter den Buͤrgern, es wird buͤrgerlich urtheilen; unter Soldaten, es wird kriegeriſche Dinge im Kopfe haben; unter Gelehrten, es wird nach Art ſtudirter Leute vernuͤnfteln und gruͤbeln; bey Hofe, es wird ſich von lauter Luſtbarkeiten und Regie- rungs-Sachen Chimaͤren erdencken. Die Kinder ſind wie Affen. Wie mans ihnen vormachet, ſo machen ſie es nach. Man lobe in ihrer zarten Jugend etwas; Sie werdens bald hoch ſchaͤtzen lernen: Man verachte etwas; Sie werdens bald verwerfen lernen. Jhre erſten Urtheile richten ſich nach den Urtheilen derer mit denen ſie immer umgehen. Der Ausſpruch ihrer Eltern oder Waͤrterinnen iſt ſchon zulaͤnglich ihnen etwas als ſchoͤn oder heßlich einzupraͤgen: Zumahl wenn ſie mercken, daß man dabey ſeine Gedancken auf ſie nicht richtet, ſondern vor ſich davon urtheilet. So gewehnet ſich allmaͤhlig ihr Verſtand durch die bloſſe Nachahmung, dieſes weiß und jenes ſchwartz zu heiſſen. Und dadurch entſte- het entweder ein guter oder uͤbler Geſchmack; nachdem dieje- nigen ihn haben, zu deren Schuͤlern ſie das Gluͤcke gemacht, ehe ſie noch geſchickt waren, dieſelben vor ihre Lehrer zu erkeñen.
So
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Das III. Capitel
Art der Auferziehung bringt ſie allererſt ins Geſchicke. Sie
muß erweckt, angefuͤhrt, von Fehlern geſaubert, und auf
dem guten Wege ſo lange erhalten werden, bis ſie ihres
Thuns gewiß wird. Der Geſchmack iſt alſo dem Menſchen
ſo was natuͤrliches als ſeine uͤbrige Gemuͤths-Kraͤffte. Ein
jeder, der Sinne und Verſtand hat, beſitzt auch eine Ge-
ſchicklichkeit von der Schoͤnheit empfindlicher Dinge zu
urtheilen. Und ſo lange dieſe nicht ihre Natur und Eigen-
ſchafften verlieren, wird ein jedes vernuͤnftiges Weſen davon
ſagen koͤnnen, ob ſie ihm wohl oder uͤbel gefallen.
Man will ferner wiſſen: Ob gewiſſen Leuten der gute,
andern aber der ſchlimme Geſchmack angebohren ſey? Jch
antworte eben ſo wie vorhin. So wenig einem eine geſunde,
dem andern eine verderbte Natur angebohren iſt: So wenig
iſt ſolches auch bey dem Geſchmacke zu vermuthen. Die
Faͤhigkeit neugebohrner Kinder iſt zu allem gleichguͤltig. Man
kan aus ihnen machen was man will. Erzieht es unter den
Bauren, es wird baͤuriſch dencken und reden; unter den
Buͤrgern, es wird buͤrgerlich urtheilen; unter Soldaten,
es wird kriegeriſche Dinge im Kopfe haben; unter Gelehrten,
es wird nach Art ſtudirter Leute vernuͤnfteln und gruͤbeln;
bey Hofe, es wird ſich von lauter Luſtbarkeiten und Regie-
rungs-Sachen Chimaͤren erdencken. Die Kinder ſind wie
Affen. Wie mans ihnen vormachet, ſo machen ſie es nach.
Man lobe in ihrer zarten Jugend etwas; Sie werdens bald
hoch ſchaͤtzen lernen: Man verachte etwas; Sie werdens
bald verwerfen lernen. Jhre erſten Urtheile richten ſich
nach den Urtheilen derer mit denen ſie immer umgehen. Der
Ausſpruch ihrer Eltern oder Waͤrterinnen iſt ſchon zulaͤnglich
ihnen etwas als ſchoͤn oder heßlich einzupraͤgen: Zumahl
wenn ſie mercken, daß man dabey ſeine Gedancken auf ſie
nicht richtet, ſondern vor ſich davon urtheilet. So gewehnet
ſich allmaͤhlig ihr Verſtand durch die bloſſe Nachahmung,
dieſes weiß und jenes ſchwartz zu heiſſen. Und dadurch entſte-
het entweder ein guter oder uͤbler Geſchmack; nachdem dieje-
nigen ihn haben, zu deren Schuͤlern ſie das Gluͤcke gemacht,
ehe ſie noch geſchickt waren, dieſelben vor ihre Lehrer zu erkeñen.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/134>, abgerufen am 23.11.2024.
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