jenigen Wercke den Vorzug zugestünde, welches dawieder mehr oder weniger verstossen hätte.
Nunmehro wird es leicht seyn, die Beschreibung des gu- ten und übeln Geschmackes zu machen: Jener ist nehmlich der von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfin- dung richtig urtheilende Verstand, in Sachen, davon man kein deutliches und gründliches Erkenntniß hat. Dieser her- gegen ist ebenfalls der Verstand, der nach der Empfindung von undeutlich erkannten Sachen urtheilet; aber sich in sol- chen seinen Urtheilen betrüget. Jch rechne zuförderst den Geschmack zum Verstande; weil ich ihn zu keiner andern Gemüths-Krafft bringen kan. Weder der Witz, noch die Einbildungs-Krafft, noch das Gedächtnis, noch die Vernunft können einigen Anspruch darauf machen. Die Sinne aber haben auch gar kein Recht dazu, man müste denn einen sech- sten Sinn davon machen wollen. Jch sage aber daß er ein urtheilender Verstand sey: weil diejenigen, so ihn wircklich zu Unterscheidung der Dinge anwenden, entweder äusserlich, oder doch innerlich den Ausspruch thun: Dieß ist schön und jenes nicht. Jch setze ferner, daß sich dieses Urtheil auf die bloße Empfindung gründe; und verstehe die innerliche Em- pfindung einer schönen Sache, die entweder wircklich ausser uns verhanden ist, oder von unsrer eignen Phantasie hervor- gebracht worden: Wie z. E. ein Mahler sich in Gedancken einen Entwurf eines Gemähldes machen, und nach seinem Geschmacke von der Schönheit desselben urtheilen kan. Es muß aber diese Empfindung einer solchen Sache uns noth- wendig die Schönheit eines Dinges vorstellen: Denn diese allein ist es, womit der Geschmack zu thun hat. Man ent- scheidet dadurch niemahls eine andre Frage, als: Ob uns etwas gefällt oder nicht? das Wohlgefallen aber entsteht allezeit aus einer Vorstellung der Schönheit, sie mag nun eine wirckliche oder vermeynte seyn. Diese Schönheit wird aber nur undeutlich, obwohl sehr klar, empfunden; weil der- jenige, dem sie gefällt, nicht im Stande ist zu sagen warum sie ihm gefällt. Zum wenigsten wird der gröste Theil der- selben keine Deutlichkeit haben. Denn so bald man von einer
Schön-
Das III. Capitel
jenigen Wercke den Vorzug zugeſtuͤnde, welches dawieder mehr oder weniger verſtoſſen haͤtte.
Nunmehro wird es leicht ſeyn, die Beſchreibung des gu- ten und uͤbeln Geſchmackes zu machen: Jener iſt nehmlich der von der Schoͤnheit eines Dinges nach der bloßen Empfin- dung richtig urtheilende Verſtand, in Sachen, davon man kein deutliches und gruͤndliches Erkenntniß hat. Dieſer her- gegen iſt ebenfalls der Verſtand, der nach der Empfindung von undeutlich erkannten Sachen urtheilet; aber ſich in ſol- chen ſeinen Urtheilen betruͤget. Jch rechne zufoͤrderſt den Geſchmack zum Verſtande; weil ich ihn zu keiner andern Gemuͤths-Krafft bringen kan. Weder der Witz, noch die Einbildungs-Krafft, noch das Gedaͤchtnis, noch die Vernunft koͤnnen einigen Anſpruch darauf machen. Die Sinne aber haben auch gar kein Recht dazu, man muͤſte denn einen ſech- ſten Sinn davon machen wollen. Jch ſage aber daß er ein urtheilender Verſtand ſey: weil diejenigen, ſo ihn wircklich zu Unterſcheidung der Dinge anwenden, entweder aͤuſſerlich, oder doch innerlich den Ausſpruch thun: Dieß iſt ſchoͤn und jenes nicht. Jch ſetze ferner, daß ſich dieſes Urtheil auf die bloße Empfindung gruͤnde; und verſtehe die innerliche Em- pfindung einer ſchoͤnen Sache, die entweder wircklich auſſer uns verhanden iſt, oder von unſrer eignen Phantaſie hervor- gebracht worden: Wie z. E. ein Mahler ſich in Gedancken einen Entwurf eines Gemaͤhldes machen, und nach ſeinem Geſchmacke von der Schoͤnheit deſſelben urtheilen kan. Es muß aber dieſe Empfindung einer ſolchen Sache uns noth- wendig die Schoͤnheit eines Dinges vorſtellen: Denn dieſe allein iſt es, womit der Geſchmack zu thun hat. Man ent- ſcheidet dadurch niemahls eine andre Frage, als: Ob uns etwas gefaͤllt oder nicht? das Wohlgefallen aber entſteht allezeit aus einer Vorſtellung der Schoͤnheit, ſie mag nun eine wirckliche oder vermeynte ſeyn. Dieſe Schoͤnheit wird aber nur undeutlich, obwohl ſehr klar, empfunden; weil der- jenige, dem ſie gefaͤllt, nicht im Stande iſt zu ſagen warum ſie ihm gefaͤllt. Zum wenigſten wird der groͤſte Theil der- ſelben keine Deutlichkeit haben. Denn ſo bald man von einer
Schoͤn-
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Das III. Capitel
jenigen Wercke den Vorzug zugeſtuͤnde, welches dawieder
mehr oder weniger verſtoſſen haͤtte.
Nunmehro wird es leicht ſeyn, die Beſchreibung des gu-
ten und uͤbeln Geſchmackes zu machen: Jener iſt nehmlich
der von der Schoͤnheit eines Dinges nach der bloßen Empfin-
dung richtig urtheilende Verſtand, in Sachen, davon man
kein deutliches und gruͤndliches Erkenntniß hat. Dieſer her-
gegen iſt ebenfalls der Verſtand, der nach der Empfindung
von undeutlich erkannten Sachen urtheilet; aber ſich in ſol-
chen ſeinen Urtheilen betruͤget. Jch rechne zufoͤrderſt den
Geſchmack zum Verſtande; weil ich ihn zu keiner andern
Gemuͤths-Krafft bringen kan. Weder der Witz, noch die
Einbildungs-Krafft, noch das Gedaͤchtnis, noch die Vernunft
koͤnnen einigen Anſpruch darauf machen. Die Sinne aber
haben auch gar kein Recht dazu, man muͤſte denn einen ſech-
ſten Sinn davon machen wollen. Jch ſage aber daß er ein
urtheilender Verſtand ſey: weil diejenigen, ſo ihn wircklich
zu Unterſcheidung der Dinge anwenden, entweder aͤuſſerlich,
oder doch innerlich den Ausſpruch thun: Dieß iſt ſchoͤn und
jenes nicht. Jch ſetze ferner, daß ſich dieſes Urtheil auf die
bloße Empfindung gruͤnde; und verſtehe die innerliche Em-
pfindung einer ſchoͤnen Sache, die entweder wircklich auſſer
uns verhanden iſt, oder von unſrer eignen Phantaſie hervor-
gebracht worden: Wie z. E. ein Mahler ſich in Gedancken
einen Entwurf eines Gemaͤhldes machen, und nach ſeinem
Geſchmacke von der Schoͤnheit deſſelben urtheilen kan. Es
muß aber dieſe Empfindung einer ſolchen Sache uns noth-
wendig die Schoͤnheit eines Dinges vorſtellen: Denn dieſe
allein iſt es, womit der Geſchmack zu thun hat. Man ent-
ſcheidet dadurch niemahls eine andre Frage, als: Ob uns
etwas gefaͤllt oder nicht? das Wohlgefallen aber entſteht
allezeit aus einer Vorſtellung der Schoͤnheit, ſie mag nun
eine wirckliche oder vermeynte ſeyn. Dieſe Schoͤnheit wird
aber nur undeutlich, obwohl ſehr klar, empfunden; weil der-
jenige, dem ſie gefaͤllt, nicht im Stande iſt zu ſagen warum
ſie ihm gefaͤllt. Zum wenigſten wird der groͤſte Theil der-
ſelben keine Deutlichkeit haben. Denn ſo bald man von einer
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/132>, abgerufen am 24.11.2024.
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