Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Das II. Capitel zeiget: daß die lebhafften Beschreibungen eigentlich in derDichtkunst zu Hause gehören; sonderlich wenn sie wie des Curtii seine, nur aus dem blossen Witze des Scribenten her- kommen. Und was soll ich von den Reden eines Xenophons, Livius, Sallustius, u. a. m. sagen? Man hat es längst er- kannt, daß dieses Proben von der dichtenden Einbildungs- Krafft dieser Scribenten wären; dazu sie als Geschichtschrei- ber nicht wären verbunden gewesen. Ja man hat sie deßwe- gen mit Recht getadelt; weil es einem aufrichtigen Verfasser historischer Nachrichten nicht zustünde, das geringste in den wahren Begebenheiten zu ändern, auszulassen oder hinzuzu- setzen. Wie haben aber gedachte Scribenten diese Pflicht in solchen Reden beobachten können, die sie berühmten Leuten viel hundert Jahre nach ihrem Tode angedichtet? Zum we- nigsten hat Curtius dem Scythischen Gesandten eine Anrede an Alexandern in den Mund gelegt; die derselbe allen Um- ständen nach unmöglich so schön und künstlich hätte halten können. Was ich hier von der Historie zur Antwort gegeben habe, das läst sich mit leichter Mühe auf alle übrige Einwürfe, die man von andern Wissenschafften hernimmt, ausdeuten, und gehöriger massen anwenden. Aristoteles hat es schon ausgeführt, wie natürlich es dem
Und
Das II. Capitel zeiget: daß die lebhafften Beſchreibungen eigentlich in derDichtkunſt zu Hauſe gehoͤren; ſonderlich wenn ſie wie des Curtii ſeine, nur aus dem bloſſen Witze des Scribenten her- kommen. Und was ſoll ich von den Reden eines Xenophons, Livius, Salluſtius, u. a. m. ſagen? Man hat es laͤngſt er- kannt, daß dieſes Proben von der dichtenden Einbildungs- Krafft dieſer Scribenten waͤren; dazu ſie als Geſchichtſchrei- ber nicht waͤren verbunden geweſen. Ja man hat ſie deßwe- gen mit Recht getadelt; weil es einem aufrichtigen Verfaſſer hiſtoriſcher Nachrichten nicht zuſtuͤnde, das geringſte in den wahren Begebenheiten zu aͤndern, auszulaſſen oder hinzuzu- ſetzen. Wie haben aber gedachte Scribenten dieſe Pflicht in ſolchen Reden beobachten koͤnnen, die ſie beruͤhmten Leuten viel hundert Jahre nach ihrem Tode angedichtet? Zum we- nigſten hat Curtius dem Scythiſchen Geſandten eine Anrede an Alexandern in den Mund gelegt; die derſelbe allen Um- ſtaͤnden nach unmoͤglich ſo ſchoͤn und kuͤnſtlich haͤtte halten koͤnnen. Was ich hier von der Hiſtorie zur Antwort gegeben habe, das laͤſt ſich mit leichter Muͤhe auf alle uͤbrige Einwuͤrfe, die man von andern Wiſſenſchafften hernimmt, ausdeuten, und gehoͤriger maſſen anwenden. Ariſtoteles hat es ſchon ausgefuͤhrt, wie natuͤrlich es dem
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Das II. Capitel
zeiget: daß die lebhafften Beſchreibungen eigentlich in der
Dichtkunſt zu Hauſe gehoͤren; ſonderlich wenn ſie wie des
Curtii ſeine, nur aus dem bloſſen Witze des Scribenten her-
kommen. Und was ſoll ich von den Reden eines Xenophons,
Livius, Salluſtius, u. a. m. ſagen? Man hat es laͤngſt er-
kannt, daß dieſes Proben von der dichtenden Einbildungs-
Krafft dieſer Scribenten waͤren; dazu ſie als Geſchichtſchrei-
ber nicht waͤren verbunden geweſen. Ja man hat ſie deßwe-
gen mit Recht getadelt; weil es einem aufrichtigen Verfaſſer
hiſtoriſcher Nachrichten nicht zuſtuͤnde, das geringſte in den
wahren Begebenheiten zu aͤndern, auszulaſſen oder hinzuzu-
ſetzen. Wie haben aber gedachte Scribenten dieſe Pflicht
in ſolchen Reden beobachten koͤnnen, die ſie beruͤhmten Leuten
viel hundert Jahre nach ihrem Tode angedichtet? Zum we-
nigſten hat Curtius dem Scythiſchen Geſandten eine Anrede
an Alexandern in den Mund gelegt; die derſelbe allen Um-
ſtaͤnden nach unmoͤglich ſo ſchoͤn und kuͤnſtlich haͤtte halten
koͤnnen. Was ich hier von der Hiſtorie zur Antwort gegeben
habe, das laͤſt ſich mit leichter Muͤhe auf alle uͤbrige Einwuͤrfe,
die man von andern Wiſſenſchafften hernimmt, ausdeuten,
und gehoͤriger maſſen anwenden.
Ariſtoteles hat es ſchon ausgefuͤhrt, wie natuͤrlich es dem
Menſchen ſey, alles was er ſieht und hoͤret nachzuahmen. Jn
unſrer zarteſten Jugend geht dieſe Ubung an. Man ſagt, die
Kinder ſind wie Affen: weil ſie alles nachmachen was die Er-
wachſenen thun. Man moͤchte aber mit beſſerm Rechte
ſprechen, die Affen ſind wie Kinder: denn dieſen gebuͤhrt ſon-
der Zweifel im Nachahmen der Vorzug. Alles was wir
lernen und faſſen, das faſſen und lernen wir durch die Nach-
ahmung. Gehen und ſtehen, reden und ſingen, eſſen und
trincken, ja leſen und ſchreiben entſteht bey uns aus keiner
andern Quelle.
Die andern Thiere zwar kennt jedes ſeine Krafft,
Und weiß auch von Natur von ſeiner Eigenſchafft:
Der Menſch allein, ihr Haupt, der Herr ſo vieler Sachen,
Muß alles was er thut von andern lernen machen.
Und
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