pgo_063.001 Geschichte verwandelt er in Spiritus, das einmal Geschehene in ein pgo_063.002 ewiges Geschehn!
pgo_063.003 Der Historiker scheint in das Gebiet des Dichters überzugreifen, pgo_063.004 wenn er wie z. B. Livius eine bestimmte Situation durch selbsterfundene pgo_063.005 Reden ausmalt. Sobald der Geschichtschreiber erfindet, wird er seiner pgo_063.006 Aufgabe in der That untreu. Er mag seine Helden nur das sagen pgo_063.007 lassen, was sie unter den gegebenen Umständen und ihrem Charakter pgo_063.008 nach hätten sagen können: immerhin überschreitet eine Ergänzung in pgo_063.009 dieser freien Art die Grenzen seiner Darstellung. Anders verhält es sich pgo_063.010 mit dem Vortrage überlieferter Mythen, mögen sie noch so dichterisch sein. pgo_063.011 Wo hingegen in der Sprache wie z. B. bei Schiller der dichterische pgo_063.012 Schmuck vorwaltet, da wird der Ausdruck, der dem Geschichtschreiber pgo_063.013 nur für seine Zwecke dienstbar sein soll, zu einer Bedeutung erhoben, die pgo_063.014 er nur in der Dichtkunst besitzt!
pgo_063.015 Umgekehrt greift der Dichter in das Gebiet des Historikers über, pgo_063.016 sobald er breite Einleitungen und Entwickelungen giebt, welche den pgo_063.017 ursächlichen Zusammenhang der Begebenheiten mit dem ganzen Beigeschmack pgo_063.018 stoffartiger Zufälligkeit auseinandersetzen, sobald er an Klio's pgo_063.019 erborgten Faden nur einige schwächliche Fictionen reiht, sobald er durch pgo_063.020 Bemerkungen jeder Art zeigt, daß ihm die historische Wahrheit mehr pgo_063.021 gilt als die dichterische. Hiergegen sündigen Walter Scott, selbst pgo_063.022 Bulwer z. B. im "letzten der Barone" und ihre zahlreichen Nachahmer. pgo_063.023 Der historische Roman verführt überhaupt zu solchen einleitenden pgo_063.024 und vermittelnden Kapiteln, in denen der Dichter mit vollem pgo_063.025 Bewußtsein den Griffel Klio's ergreift und den unverarbeiteten Rohstoff pgo_063.026 der Geschichte handlangermäßig aufschichtet. Der Dramatiker ist diesen pgo_063.027 Mißgriffen weniger ausgesetzt, weil er die Handlung aus den Characteren pgo_063.028 heraus und mittelst ihrer eigenen Rede gestaltet, er müßte denn, wie pgo_063.029 ein neuester Tragödiendichter, zu dem verzweifelten Mittel greifen, in pgo_063.030 den Reden seiner Helden die historisch gesprochenen Worte in ihrer pgo_063.031 authentischen Würde durch Sternchen auszuzeichnen, um sie von den pgo_063.032 weniger glaubwürdigen Redensarten des Dichters zu unterscheiden. pgo_063.033 Doch ist nicht zu leugnen, daß auch der historische Tragödiencyklus pgo_063.034 Shakespeare's, der einigen neuern Revolutionsdramen und Hohenstaufenstücken pgo_063.035 zum Muster diente, zu sehr an stoffartiger Erdschwere leidet, zu
pgo_063.001 Geschichte verwandelt er in Spiritus, das einmal Geschehene in ein pgo_063.002 ewiges Geschehn!
pgo_063.003 Der Historiker scheint in das Gebiet des Dichters überzugreifen, pgo_063.004 wenn er wie z. B. Livius eine bestimmte Situation durch selbsterfundene pgo_063.005 Reden ausmalt. Sobald der Geschichtschreiber erfindet, wird er seiner pgo_063.006 Aufgabe in der That untreu. Er mag seine Helden nur das sagen pgo_063.007 lassen, was sie unter den gegebenen Umständen und ihrem Charakter pgo_063.008 nach hätten sagen können: immerhin überschreitet eine Ergänzung in pgo_063.009 dieser freien Art die Grenzen seiner Darstellung. Anders verhält es sich pgo_063.010 mit dem Vortrage überlieferter Mythen, mögen sie noch so dichterisch sein. pgo_063.011 Wo hingegen in der Sprache wie z. B. bei Schiller der dichterische pgo_063.012 Schmuck vorwaltet, da wird der Ausdruck, der dem Geschichtschreiber pgo_063.013 nur für seine Zwecke dienstbar sein soll, zu einer Bedeutung erhoben, die pgo_063.014 er nur in der Dichtkunst besitzt!
pgo_063.015 Umgekehrt greift der Dichter in das Gebiet des Historikers über, pgo_063.016 sobald er breite Einleitungen und Entwickelungen giebt, welche den pgo_063.017 ursächlichen Zusammenhang der Begebenheiten mit dem ganzen Beigeschmack pgo_063.018 stoffartiger Zufälligkeit auseinandersetzen, sobald er an Klio's pgo_063.019 erborgten Faden nur einige schwächliche Fictionen reiht, sobald er durch pgo_063.020 Bemerkungen jeder Art zeigt, daß ihm die historische Wahrheit mehr pgo_063.021 gilt als die dichterische. Hiergegen sündigen Walter Scott, selbst pgo_063.022 Bulwer z. B. im „letzten der Barone“ und ihre zahlreichen Nachahmer. pgo_063.023 Der historische Roman verführt überhaupt zu solchen einleitenden pgo_063.024 und vermittelnden Kapiteln, in denen der Dichter mit vollem pgo_063.025 Bewußtsein den Griffel Klio's ergreift und den unverarbeiteten Rohstoff pgo_063.026 der Geschichte handlangermäßig aufschichtet. Der Dramatiker ist diesen pgo_063.027 Mißgriffen weniger ausgesetzt, weil er die Handlung aus den Characteren pgo_063.028 heraus und mittelst ihrer eigenen Rede gestaltet, er müßte denn, wie pgo_063.029 ein neuester Tragödiendichter, zu dem verzweifelten Mittel greifen, in pgo_063.030 den Reden seiner Helden die historisch gesprochenen Worte in ihrer pgo_063.031 authentischen Würde durch Sternchen auszuzeichnen, um sie von den pgo_063.032 weniger glaubwürdigen Redensarten des Dichters zu unterscheiden. pgo_063.033 Doch ist nicht zu leugnen, daß auch der historische Tragödiencyklus pgo_063.034 Shakespeare's, der einigen neuern Revolutionsdramen und Hohenstaufenstücken pgo_063.035 zum Muster diente, zu sehr an stoffartiger Erdschwere leidet, zu
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/85>, abgerufen am 28.11.2024.
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