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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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zwischen Philosophie und Poesie am klarsten. Wo dem Dichter der pgo_060.002
kühne Wurf gelingt: da scheint das Welträthsel gelöst, Wahrheit und pgo_060.003
Schönheit vermählt, der höchste Gedanke, den der Denker in dialektischer pgo_060.004
Entwickelung erzeugt, in unmittelbarer Schönheit auch für die Anschauung pgo_060.005
geboren. Wo er mißlingt: da müht sich der Dichter ab, ihn auf Art und pgo_060.006
Weise des Philosophen hervorzubringen; da hört man die dialektischen pgo_060.007
Fäden in der Gedankenfabrik herüber- und hinüberschnurren; da sitzt die pgo_060.008
Metaphysik als zehnte Muse am Webstuhl, aber wir erhalten nimmer das pgo_060.009
fertige schöne Bild. Das vergebliche Ringen läßt auch den Ausdruck pgo_060.010
seinen dichterischen Reiz verlieren und die Farb- und Gestaltlosigkeit des pgo_060.011
philosophischen Denkens annehmen. Solche Wendungen finden sich pgo_060.012
häufig in Sallet's sonst gedankenvollen Gedichten, so z. B. in "Unsterblichkeit":

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Doch was in mir den Wechsel überdauert, pgo_060.015
Spürt mancher Jüngling noch in tiefster Brust, pgo_060.016
Wenn ich aus Gott in ihn zurückgeschauert, pgo_060.017
Unsterblich in der Menschheit mir bewußt!

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Dagegen beruht Schiller's Dichtergröße vorzugsweise darauf, daß er pgo_060.019
in seinen "Gedichten" die höchsten Probleme des Gedankens in schönster pgo_060.020
Anschaulichkeit mit aller Lebenswärme der Empfindung zu gestalten wußte.

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Philosophie und Dichtkunst sind sich darin verwandt, daß sie beide pgo_060.022
darauf ausgehen, ein Ganzes zu schaffen, das als ein Mikrokosmos pgo_060.023
die Welt in sich trägt. Doch der Philosoph schafft dies Ganze nur, indem pgo_060.024
er sein Gedankengebäude vollendet; das Einzelne ist lebendig, aber nur pgo_060.025
für das Ganze, nur im Fluß der Jdee; für den Dichter ist das Einzelne pgo_060.026
selbst das Ganze, selbst die erscheinende Jdee!

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Doch nicht blos die Weltanschauung des Dichters unterscheidet das pgo_060.028
dichterische Kunstwerk vom prosaischen; auch sein innerer Organismus pgo_060.029
ist ein wesentlich verschiedener. Das Dichtwerk hat organisches pgo_060.030
Leben;
es ist sich selbst Zweck; alle Gattungen der Prosa haben ihren pgo_060.031
Zweck außer sich. Der gleiche Hauch der Liebe beseelt das Ganze und pgo_060.032
auch seinen kleinsten Theil; in einem Dichtwerk kann nichts Zufälliges, pgo_060.033
nichts Gleichgültiges existiren. Vergleichen wir die höchsten Gattungen pgo_060.034
der Prosa, nächst der Philosophie, mit der Dichtkunst, um diesen Unterschied pgo_060.035
klar zu machen!

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Unsterblich in der Menschheit mir bewußt!

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Dagegen beruht Schiller's Dichtergröße vorzugsweise darauf, daß er pgo_060.019
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Anschaulichkeit mit aller Lebenswärme der Empfindung zu gestalten wußte.

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Philosophie und Dichtkunst sind sich darin verwandt, daß sie beide pgo_060.022
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/82>, abgerufen am 29.11.2024.