Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_059.001
als auch im Nachweis triumphirt, daß er von der Geschichte fast gar nicht pgo_059.002
abgewichen. Der Bühnendichter aus Kotzebue's und Jffland's Schule pgo_059.003
nimmt irgend eine Verlegenheit des alltäglichen Lebens, eine Spielschuld pgo_059.004
oder einen Diebstahl aus Hunger, und macht daraus ein Drama. Das pgo_059.005
ist alles eine in der modernen Literatur reichwuchernde Prosa, welche in pgo_059.006
ihrer Unfähigkeit, die weitausgebreitete Kultur der Gegenwart mit ihren pgo_059.007
tausendfachen Beziehungen dichterisch zu beseelen, beliebig irgend eine pgo_059.008
Zufälligkeit aus ihr herausgreift und uns diesen unverarbeiteten Rohstoff pgo_059.009
als ein Kunstproduct auftischt. Die Analyse des Verstandes aber, die pgo_059.010
sich unter einer dichterischen Maske verbirgt, bringt nur die didaktische pgo_059.011
Poesie
hervor, die wir wegen der zahlreichen Producte, die sie erzeugt, pgo_059.012
noch besonders betrachten müssen. Hierher gehören auch eine Menge pgo_059.013
neuer französischer Romane, in denen das Seelenleben und die pgo_059.014
Gesellschaft nur verstandesmäßig analysirt sind, ohne irgend eine pgo_059.015
poetische Synthese.

pgo_059.016
Ueber diese verstandesmäßige Analyse, sowie über die Zufälligkeit der pgo_059.017
sinnlichen Welt erhebt sich indeß die Philosophie und scheint so mit pgo_059.018
der Poesie zusammenzufallen. Jn der That gilt Beiden nur die Einheit pgo_059.019
der Jdee und der Erscheinung, aber diese Einheit verwirklicht die Philosophie pgo_059.020
in der Jdee, die Poesie in der Erscheinung. Es ist gewiß die pgo_059.021
höchste Aufgabe der Poesie, das höhere auf das Weltganze und seine pgo_059.022
ewigen Zwecke gerichtete Gedankenreich in sinnlicher Schönheit darzustellen, pgo_059.023
und von der dunklen Symbolik der orientalischen Poesie bis zu pgo_059.024
Dante's divina commedia und Goethe's "Faust" haben großartige, über pgo_059.025
die Grenzen der einzelnen Gattungen hinübergreifende Kunstwerke nach pgo_059.026
der Lösung dieses Problems gerungen. Wo indeß dies Streben mißlang: pgo_059.027
da war der Rest ein Niederschlag, den wir als philosophische Prosa pgo_059.028
bezeichnen mögen, und der im unverarbeiteten Scholasticismus des pgo_059.029
Dante'schen Gedichtes, in den trockenen Allegorieen des zweiten Theiles pgo_059.030
von "Faust" und in zahlreichen Gedichten unserer neuen philosophischen pgo_059.031
Lyriker, in Mosen's "Ahasver" und Jordan's "Demiurgos" unverkennbar pgo_059.032
hervortritt*). Gerade dies prosaische residuum macht den Unterschied

*) pgo_059.033
Vgl. meine "Nationalliteratur der Deutschen in der ersten Hälfte des neunzehnten pgo_059.034
Jahrhunderts." Bd. 2. p. 293.

pgo_059.001
als auch im Nachweis triumphirt, daß er von der Geschichte fast gar nicht pgo_059.002
abgewichen. Der Bühnendichter aus Kotzebue's und Jffland's Schule pgo_059.003
nimmt irgend eine Verlegenheit des alltäglichen Lebens, eine Spielschuld pgo_059.004
oder einen Diebstahl aus Hunger, und macht daraus ein Drama. Das pgo_059.005
ist alles eine in der modernen Literatur reichwuchernde Prosa, welche in pgo_059.006
ihrer Unfähigkeit, die weitausgebreitete Kultur der Gegenwart mit ihren pgo_059.007
tausendfachen Beziehungen dichterisch zu beseelen, beliebig irgend eine pgo_059.008
Zufälligkeit aus ihr herausgreift und uns diesen unverarbeiteten Rohstoff pgo_059.009
als ein Kunstproduct auftischt. Die Analyse des Verstandes aber, die pgo_059.010
sich unter einer dichterischen Maske verbirgt, bringt nur die didaktische pgo_059.011
Poesie
hervor, die wir wegen der zahlreichen Producte, die sie erzeugt, pgo_059.012
noch besonders betrachten müssen. Hierher gehören auch eine Menge pgo_059.013
neuer französischer Romane, in denen das Seelenleben und die pgo_059.014
Gesellschaft nur verstandesmäßig analysirt sind, ohne irgend eine pgo_059.015
poetische Synthese.

pgo_059.016
Ueber diese verstandesmäßige Analyse, sowie über die Zufälligkeit der pgo_059.017
sinnlichen Welt erhebt sich indeß die Philosophie und scheint so mit pgo_059.018
der Poesie zusammenzufallen. Jn der That gilt Beiden nur die Einheit pgo_059.019
der Jdee und der Erscheinung, aber diese Einheit verwirklicht die Philosophie pgo_059.020
in der Jdee, die Poesie in der Erscheinung. Es ist gewiß die pgo_059.021
höchste Aufgabe der Poesie, das höhere auf das Weltganze und seine pgo_059.022
ewigen Zwecke gerichtete Gedankenreich in sinnlicher Schönheit darzustellen, pgo_059.023
und von der dunklen Symbolik der orientalischen Poesie bis zu pgo_059.024
Dante's divina commedia und Goethe's „Faust“ haben großartige, über pgo_059.025
die Grenzen der einzelnen Gattungen hinübergreifende Kunstwerke nach pgo_059.026
der Lösung dieses Problems gerungen. Wo indeß dies Streben mißlang: pgo_059.027
da war der Rest ein Niederschlag, den wir als philosophische Prosa pgo_059.028
bezeichnen mögen, und der im unverarbeiteten Scholasticismus des pgo_059.029
Dante'schen Gedichtes, in den trockenen Allegorieen des zweiten Theiles pgo_059.030
von „Faust“ und in zahlreichen Gedichten unserer neuen philosophischen pgo_059.031
Lyriker, in Mosen's „Ahasver“ und Jordan's „Demiurgos“ unverkennbar pgo_059.032
hervortritt*). Gerade dies prosaische residuum macht den Unterschied

*) pgo_059.033
Vgl. meine „Nationalliteratur der Deutschen in der ersten Hälfte des neunzehnten pgo_059.034
Jahrhunderts.“ Bd. 2. p. 293.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0081" n="59"/><lb n="pgo_059.001"/>
als auch im Nachweis triumphirt, daß er von der Geschichte fast gar nicht <lb n="pgo_059.002"/>
abgewichen. Der Bühnendichter aus Kotzebue's und Jffland's Schule <lb n="pgo_059.003"/>
nimmt irgend eine Verlegenheit des alltäglichen Lebens, eine Spielschuld <lb n="pgo_059.004"/>
oder einen Diebstahl aus Hunger, und macht daraus ein Drama. Das <lb n="pgo_059.005"/>
ist alles eine in der modernen Literatur reichwuchernde <hi rendition="#g">Prosa,</hi> welche in <lb n="pgo_059.006"/>
ihrer Unfähigkeit, die weitausgebreitete Kultur der Gegenwart mit ihren <lb n="pgo_059.007"/>
tausendfachen Beziehungen dichterisch zu beseelen, beliebig irgend eine <lb n="pgo_059.008"/>
Zufälligkeit aus ihr herausgreift und uns diesen unverarbeiteten Rohstoff <lb n="pgo_059.009"/>
als ein Kunstproduct auftischt. Die Analyse des Verstandes aber, die <lb n="pgo_059.010"/>
sich unter einer dichterischen Maske verbirgt, bringt nur die <hi rendition="#g">didaktische <lb n="pgo_059.011"/>
Poesie</hi> hervor, die wir wegen der zahlreichen Producte, die sie erzeugt, <lb n="pgo_059.012"/>
noch besonders betrachten müssen. Hierher gehören auch eine Menge <lb n="pgo_059.013"/>
neuer französischer Romane, in denen das <hi rendition="#g">Seelenleben</hi> und die <lb n="pgo_059.014"/> <hi rendition="#g">Gesellschaft</hi> nur verstandesmäßig analysirt sind, ohne irgend eine <lb n="pgo_059.015"/>
poetische Synthese.</p>
              <p><lb n="pgo_059.016"/>
Ueber diese verstandesmäßige Analyse, sowie über die Zufälligkeit der <lb n="pgo_059.017"/>
sinnlichen Welt erhebt sich indeß die <hi rendition="#g">Philosophie</hi> und scheint so mit <lb n="pgo_059.018"/>
der Poesie zusammenzufallen. Jn der That gilt Beiden nur die Einheit <lb n="pgo_059.019"/>
der Jdee und der Erscheinung, aber diese Einheit verwirklicht die Philosophie <lb n="pgo_059.020"/>
in der <hi rendition="#g">Jdee,</hi> die Poesie in der <hi rendition="#g">Erscheinung.</hi> Es ist gewiß die <lb n="pgo_059.021"/>
höchste Aufgabe der Poesie, das höhere auf das Weltganze und seine <lb n="pgo_059.022"/>
ewigen Zwecke gerichtete Gedankenreich in sinnlicher Schönheit darzustellen, <lb n="pgo_059.023"/>
und von der dunklen Symbolik der orientalischen Poesie bis zu <lb n="pgo_059.024"/>
Dante's <foreign xml:lang="lat">divina commedia</foreign> und Goethe's &#x201E;Faust&#x201C; haben großartige, über <lb n="pgo_059.025"/>
die Grenzen der einzelnen Gattungen hinübergreifende Kunstwerke nach <lb n="pgo_059.026"/>
der Lösung dieses Problems gerungen. Wo indeß dies Streben mißlang: <lb n="pgo_059.027"/>
da war der Rest ein Niederschlag, den wir als philosophische Prosa <lb n="pgo_059.028"/>
bezeichnen mögen, und der im unverarbeiteten Scholasticismus des <lb n="pgo_059.029"/>
Dante'schen Gedichtes, in den trockenen Allegorieen des zweiten Theiles <lb n="pgo_059.030"/>
von &#x201E;Faust&#x201C; und in zahlreichen Gedichten unserer neuen philosophischen <lb n="pgo_059.031"/>
Lyriker, in Mosen's &#x201E;Ahasver&#x201C; und Jordan's &#x201E;Demiurgos&#x201C; unverkennbar <lb n="pgo_059.032"/>
hervortritt<note xml:id="PGO_059_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_059.033"/>
Vgl. meine &#x201E;Nationalliteratur der Deutschen in der ersten Hälfte des neunzehnten <lb n="pgo_059.034"/>
Jahrhunderts.&#x201C; Bd. 2. p. 293.</note>. Gerade dies prosaische <foreign xml:lang="lat">residuum</foreign> macht den Unterschied
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0081] pgo_059.001 als auch im Nachweis triumphirt, daß er von der Geschichte fast gar nicht pgo_059.002 abgewichen. Der Bühnendichter aus Kotzebue's und Jffland's Schule pgo_059.003 nimmt irgend eine Verlegenheit des alltäglichen Lebens, eine Spielschuld pgo_059.004 oder einen Diebstahl aus Hunger, und macht daraus ein Drama. Das pgo_059.005 ist alles eine in der modernen Literatur reichwuchernde Prosa, welche in pgo_059.006 ihrer Unfähigkeit, die weitausgebreitete Kultur der Gegenwart mit ihren pgo_059.007 tausendfachen Beziehungen dichterisch zu beseelen, beliebig irgend eine pgo_059.008 Zufälligkeit aus ihr herausgreift und uns diesen unverarbeiteten Rohstoff pgo_059.009 als ein Kunstproduct auftischt. Die Analyse des Verstandes aber, die pgo_059.010 sich unter einer dichterischen Maske verbirgt, bringt nur die didaktische pgo_059.011 Poesie hervor, die wir wegen der zahlreichen Producte, die sie erzeugt, pgo_059.012 noch besonders betrachten müssen. Hierher gehören auch eine Menge pgo_059.013 neuer französischer Romane, in denen das Seelenleben und die pgo_059.014 Gesellschaft nur verstandesmäßig analysirt sind, ohne irgend eine pgo_059.015 poetische Synthese. pgo_059.016 Ueber diese verstandesmäßige Analyse, sowie über die Zufälligkeit der pgo_059.017 sinnlichen Welt erhebt sich indeß die Philosophie und scheint so mit pgo_059.018 der Poesie zusammenzufallen. Jn der That gilt Beiden nur die Einheit pgo_059.019 der Jdee und der Erscheinung, aber diese Einheit verwirklicht die Philosophie pgo_059.020 in der Jdee, die Poesie in der Erscheinung. Es ist gewiß die pgo_059.021 höchste Aufgabe der Poesie, das höhere auf das Weltganze und seine pgo_059.022 ewigen Zwecke gerichtete Gedankenreich in sinnlicher Schönheit darzustellen, pgo_059.023 und von der dunklen Symbolik der orientalischen Poesie bis zu pgo_059.024 Dante's divina commedia und Goethe's „Faust“ haben großartige, über pgo_059.025 die Grenzen der einzelnen Gattungen hinübergreifende Kunstwerke nach pgo_059.026 der Lösung dieses Problems gerungen. Wo indeß dies Streben mißlang: pgo_059.027 da war der Rest ein Niederschlag, den wir als philosophische Prosa pgo_059.028 bezeichnen mögen, und der im unverarbeiteten Scholasticismus des pgo_059.029 Dante'schen Gedichtes, in den trockenen Allegorieen des zweiten Theiles pgo_059.030 von „Faust“ und in zahlreichen Gedichten unserer neuen philosophischen pgo_059.031 Lyriker, in Mosen's „Ahasver“ und Jordan's „Demiurgos“ unverkennbar pgo_059.032 hervortritt *). Gerade dies prosaische residuum macht den Unterschied *) pgo_059.033 Vgl. meine „Nationalliteratur der Deutschen in der ersten Hälfte des neunzehnten pgo_059.034 Jahrhunderts.“ Bd. 2. p. 293.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/81
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/81>, abgerufen am 29.11.2024.