pgo_056.001 Gange der Handlung einfach zu entwickeln, so daß man nirgends die pgo_056.002 Absicht merkt, wie der Dichter zwei oder vier oder sechs Helden nur pgo_056.003 äußerlich zum musikalischen Appell zusammenbläst. Diese folgerichtige pgo_056.004 Entwickelung aus dem Gefühle erstreckt sich auch auf die Scene, welche pgo_056.005 ein Recht hat, in der Oper mitzuspielen und ihren ganzen Reichthum zu pgo_056.006 entfalten, doch innerhalb der Grenzen poetischer Wahrheit. Deshalb pgo_056.007 tadelt Wagner mit Recht den Sonnenaufgang in Meyerbeer's pgo_056.008 "Propheten," der nicht dramatisch motivirt ist, obwohl dies so leicht pgo_056.009 möglich war. Das Schlittschuhlaufen in dieser Oper fällt unter denselben pgo_056.010 Gesichtspunkt. Die meisten Operntexte leiden am Mangel einfach klarer pgo_056.011 und folgerichtiger Motivirung. Daher sind sie zum Theil unsinnig, zum pgo_056.012 Theil unverständlich. Was nun den dichterischen Text selbst betrifft: so pgo_056.013 muß er zunächst rein und wohllautend sein, mit größter Einfachheit die pgo_056.014 Empfindung aussprechen, da hier der Musiker, nicht der Dichter die pgo_056.015 reichere Farbengebung übernimmt. Tiefe Gedanken, prächtige oder breite pgo_056.016 Schilderungen, hinundhergehende Reflexionen sind ebenso ausgeschlossen, pgo_056.017 wie allzu üppige rhythmische Formen. Klarer, angemessener, harmonischer pgo_056.018 Ausdruck und Reinheit des Reimes und Rhythmus sind dagegen pgo_056.019 durchweg erforderlich. Nur indem die Poesie auf die Fülle und den pgo_056.020 Glanz ihres Wesens verzichtet, kann sie mit der Musik ein Bündniß eingehen. pgo_056.021 Diese Verzichtleistung erkennt auch das Kunstwerk der Zukunft pgo_056.022 an; aber indem es sie zur absoluten macht und die ganze Dichtkunst auf pgo_056.023 das Niveau eines guten Operntextes herabdrückt, erweist es sich nur als pgo_056.024 ein reactionärer Rückgang zu den Anfängen der Kunst und entspricht pgo_056.025 jenem unhistorischen Standpunkt ikarischer Sittlichkeit, der aus der reichen pgo_056.026 Entwickelung der Geschichte heraus in irgend ein geträumtes Eldorado pgo_056.027 flüchtet. Wagner ist in der "Aesthetik" ebenso abstrakt, wie jene Naturrechtslehrer pgo_056.028 Hobbes und Hugo Grotius, welche eine vor- oder nachgeschichtliche pgo_056.029 Zeit zur Begründung ihrer Lehren wählten. Seine Kunstlehre pgo_056.030 ist so einseitig, wie jene Rechtsphilosophie, und sein "absolutes" pgo_056.031 Kunstwerk wäre zugleich eine Vermischung der Gattungen und ihr pgo_056.032 ununterbrochenes Opferfest.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/78>, abgerufen am 29.11.2024.
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