pgo_049.001 einen oder anderen Seite, nicht ohne daß die eine Kunst der anderen pgo_049.002 dienstbar geworden wäre, freilich nicht ohne das Bewußtsein, welches pgo_049.003 den römischen Bürger begleitete, wenn er in den Saturnalien die Rolle pgo_049.004 des Sclaven übernahm: daß diese Dienstbarkeit eine freigewählte und pgo_049.005 vorübergehende sei und er, abgesehen von ihr, die Herrschaft der Welt pgo_049.006 behaupte. Daß sich Musik und Dichtkunst historisch aus einem und demselben pgo_049.007 Keime erschlossen, deutet auf ihre innige Verwandtschaft als pgo_049.008 schwesterliche Künste, eine Verwandtschaft in den ersten kanonischen pgo_049.009 Graden, welche unbedingt die Ehe ausschließt, zu der ein neuer Kunstreformator pgo_049.010 sie zwingen will. Die Musik hat mit der Dichtkunst die Welt pgo_049.011 der Jnnerlichkeit gemein, welche nur den Bestimmungen der Zeitfolge unterworfen pgo_049.012 ist. Das räumliche Bild, welches von der Poesie nur aus dem pgo_049.013 äußeren Raum in die Vorstellung übertragen wird, ist aus dem Kreise pgo_049.014 der Musik gänzlich ausgeschlossen. Die bestimmte Vorstellung, den pgo_049.015 bestimmten Gedanken auszudrücken, fehlen ihr alle Mittel. Der Poesie pgo_049.016 gegenüber ist sie eine Stumme von Portici, während sie den anderen pgo_049.017 Künsten gegenüber der Welt zum ersten Male die Zunge löst. Sie ist pgo_049.018 die Welt in ihrem innersten Ertönen, in ihrer ahnungsvollen Tiefe, in pgo_049.019 welche ja die Seele des Menschen mitversenkt ist, und deren geheimnißvollen pgo_049.020 Zauber sie mit größerer Macht ausspricht, als jede andere Kunst. pgo_049.021 Jn ihrer Form erinnert sie an die Arithmetik, an die Zahl, die ja ebenfalls pgo_049.022 in der Mitte zwischen Geistigem und Sinnlichem steht. Leibnitz pgo_049.023 nannte die Musik mit Recht eine verborgene Arithmetik der Seele, die pgo_049.024 zählt, ohne es zu wissen. Auf der Zahl beruht nicht nur die ganze pgo_049.025 geheimnißvolle Architektonik der Musik: die Jntervalle der Töne und die pgo_049.026 Einschnitte des Tactes; der Ton selbst beruht auf der bestimmten Zahl pgo_049.027 der Schwingungen. Die Zahl bannt die forteilende Zeit in das künstlerische pgo_049.028 Gesetz, und hier ist der Punkt, wo der Rhythmus der Poesie und pgo_049.029 der Rhythmus der Musik sich begegnen. Aber wieviel reicher ist dieser pgo_049.030 als jener! Welche zahlreiche Figurationen gestattet der einzelne Tact, pgo_049.031 während dort die karge Form sich stereotyp wiederholt! Auf diesem pgo_049.032 Gebiete kann die Poesie mit der Musik nicht wetteifern, und das beruht pgo_049.033 auf dem wesentlichen Unterschied der Bedeutung, den der Ton für die pgo_049.034 eine und die andere Kunst hat. Für die Musik ist der Ton das Materialpgo_049.035 der Kunst -- nur in ihm kann sie ihren Jnhalt ausführen, nur mit
pgo_049.001 einen oder anderen Seite, nicht ohne daß die eine Kunst der anderen pgo_049.002 dienstbar geworden wäre, freilich nicht ohne das Bewußtsein, welches pgo_049.003 den römischen Bürger begleitete, wenn er in den Saturnalien die Rolle pgo_049.004 des Sclaven übernahm: daß diese Dienstbarkeit eine freigewählte und pgo_049.005 vorübergehende sei und er, abgesehen von ihr, die Herrschaft der Welt pgo_049.006 behaupte. Daß sich Musik und Dichtkunst historisch aus einem und demselben pgo_049.007 Keime erschlossen, deutet auf ihre innige Verwandtschaft als pgo_049.008 schwesterliche Künste, eine Verwandtschaft in den ersten kanonischen pgo_049.009 Graden, welche unbedingt die Ehe ausschließt, zu der ein neuer Kunstreformator pgo_049.010 sie zwingen will. Die Musik hat mit der Dichtkunst die Welt pgo_049.011 der Jnnerlichkeit gemein, welche nur den Bestimmungen der Zeitfolge unterworfen pgo_049.012 ist. Das räumliche Bild, welches von der Poesie nur aus dem pgo_049.013 äußeren Raum in die Vorstellung übertragen wird, ist aus dem Kreise pgo_049.014 der Musik gänzlich ausgeschlossen. Die bestimmte Vorstellung, den pgo_049.015 bestimmten Gedanken auszudrücken, fehlen ihr alle Mittel. Der Poesie pgo_049.016 gegenüber ist sie eine Stumme von Portici, während sie den anderen pgo_049.017 Künsten gegenüber der Welt zum ersten Male die Zunge löst. Sie ist pgo_049.018 die Welt in ihrem innersten Ertönen, in ihrer ahnungsvollen Tiefe, in pgo_049.019 welche ja die Seele des Menschen mitversenkt ist, und deren geheimnißvollen pgo_049.020 Zauber sie mit größerer Macht ausspricht, als jede andere Kunst. pgo_049.021 Jn ihrer Form erinnert sie an die Arithmetik, an die Zahl, die ja ebenfalls pgo_049.022 in der Mitte zwischen Geistigem und Sinnlichem steht. Leibnitz pgo_049.023 nannte die Musik mit Recht eine verborgene Arithmetik der Seele, die pgo_049.024 zählt, ohne es zu wissen. Auf der Zahl beruht nicht nur die ganze pgo_049.025 geheimnißvolle Architektonik der Musik: die Jntervalle der Töne und die pgo_049.026 Einschnitte des Tactes; der Ton selbst beruht auf der bestimmten Zahl pgo_049.027 der Schwingungen. Die Zahl bannt die forteilende Zeit in das künstlerische pgo_049.028 Gesetz, und hier ist der Punkt, wo der Rhythmus der Poesie und pgo_049.029 der Rhythmus der Musik sich begegnen. Aber wieviel reicher ist dieser pgo_049.030 als jener! Welche zahlreiche Figurationen gestattet der einzelne Tact, pgo_049.031 während dort die karge Form sich stereotyp wiederholt! Auf diesem pgo_049.032 Gebiete kann die Poesie mit der Musik nicht wetteifern, und das beruht pgo_049.033 auf dem wesentlichen Unterschied der Bedeutung, den der Ton für die pgo_049.034 eine und die andere Kunst hat. Für die Musik ist der Ton das Materialpgo_049.035 der Kunst — nur in ihm kann sie ihren Jnhalt ausführen, nur mit
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/71>, abgerufen am 30.11.2024.
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