pgo_039.001 letzte Zweck des Dichters sein kann, und schon dadurch ist die beschreibende pgo_039.002 Poesie als eine bestimmte Gattung verurtheilt. Lessing ließ pgo_039.003 gegen sie vorzugsweise die Batterieen seines Scharfsinnes spielen, da pgo_039.004 gerade zu seiner Zeit die Thomson, Haller, Brockes und Kleistpgo_039.005 sich einer großen Beliebtheit erfreuten. Das beschreibende Gedicht als pgo_039.006 solches ist jetzt nur eine historische Curiosität und kann hier nur an dieser pgo_039.007 Stelle besprochen werden. Sein Stoff ist die Natur, aber die todte pgo_039.008 Natur in ihren Formen und Gestalten. Haller bringt die Botanik in pgo_039.009 Verse und zergliedert uns eine Alpenblume: Wurzel, Stengel, Blatt, pgo_039.010 Krone und Kelch, Staubfäden und Pistille, mit der Genauigkeit des pgo_039.011 Naturforschers, der sie unter der Lupe angesehn. Was er uns aber nicht pgo_039.012 zergliedern kann und doch allein als Dichter geben sollte: das ist der pgo_039.013 Duft dieser Blume. Und der Duft überhaupt fehlt der beschreibenden pgo_039.014 Poesie: der höhere Duft der Seele. Thomson malt uns die "Jahreszeiten" pgo_039.015 in einer Mosaik von Bildern, aber der Eindruck seiner Dichtung pgo_039.016 ist so ermüdend, als wären wir durch eine Gemäldegallerie von Landschaftsbildern pgo_039.017 gewandert, die wir im Vorübergehn nur oberflächlich pgo_039.018 betrachten konnten. Denn auf diesem Gebiet muß der Dichter gegen den pgo_039.019 Maler den Kürzeren ziehen. Wohl fehlt auch die menschliche Thätigkeitpgo_039.020 nicht; aber diese Thätigkeit tritt nur als Staffage auf. Diese pgo_039.021 Schnitter und Winzer sind so äußerlich hineingemalt, wie ihre Aehrenbündel pgo_039.022 und Mostfässer. Jn Kleist's "Frühling" bemerkt man hin und pgo_039.023 wieder eine pulsirende Ader der Empfindung -- aber das Ganze geht pgo_039.024 ebenfalls in einem Nebeneinander von Bildern, in einer äußerlichen pgo_039.025 Breite auf. Die Aeußerlichkeit als Selbstzweck ist das Wesen der pgo_039.026 beschreibenden Dichtgattung, und damit ist sie als eine unberechtigte pgo_039.027 Zwittergattung zwischen Poesie und Malerei verurtheilt. Wenn das pgo_039.028 Aneinanderreihen todter Bilder im Raume malerisch ist: so kann die pgo_039.029 Schilderung nur dichterisch werden durch innere Bewegung. Man pgo_039.030 kann zunächst der Natur diese Bewegung leihn, indem man nicht die pgo_039.031 gewordene Gestalt festhält, sondern sie als im ewigen Proceß des pgo_039.032 Werdens begriffen darstellt. Schon an und für sich ist die Natur in pgo_039.033 Bewegung, das aufgeregte Meer, der Sturm, das Gewitter dichterisch. pgo_039.034 Man könnte sagen: "Hier ist Handlung in der Natur." Der Maler pgo_039.035 kann nur einen bestimmten Moment fixiren, nur diese Gestalt des Wogenschlags,
pgo_039.001 letzte Zweck des Dichters sein kann, und schon dadurch ist die beschreibende pgo_039.002 Poesie als eine bestimmte Gattung verurtheilt. Lessing ließ pgo_039.003 gegen sie vorzugsweise die Batterieen seines Scharfsinnes spielen, da pgo_039.004 gerade zu seiner Zeit die Thomson, Haller, Brockes und Kleistpgo_039.005 sich einer großen Beliebtheit erfreuten. Das beschreibende Gedicht als pgo_039.006 solches ist jetzt nur eine historische Curiosität und kann hier nur an dieser pgo_039.007 Stelle besprochen werden. Sein Stoff ist die Natur, aber die todte pgo_039.008 Natur in ihren Formen und Gestalten. Haller bringt die Botanik in pgo_039.009 Verse und zergliedert uns eine Alpenblume: Wurzel, Stengel, Blatt, pgo_039.010 Krone und Kelch, Staubfäden und Pistille, mit der Genauigkeit des pgo_039.011 Naturforschers, der sie unter der Lupe angesehn. Was er uns aber nicht pgo_039.012 zergliedern kann und doch allein als Dichter geben sollte: das ist der pgo_039.013 Duft dieser Blume. Und der Duft überhaupt fehlt der beschreibenden pgo_039.014 Poesie: der höhere Duft der Seele. Thomson malt uns die „Jahreszeiten“ pgo_039.015 in einer Mosaik von Bildern, aber der Eindruck seiner Dichtung pgo_039.016 ist so ermüdend, als wären wir durch eine Gemäldegallerie von Landschaftsbildern pgo_039.017 gewandert, die wir im Vorübergehn nur oberflächlich pgo_039.018 betrachten konnten. Denn auf diesem Gebiet muß der Dichter gegen den pgo_039.019 Maler den Kürzeren ziehen. Wohl fehlt auch die menschliche Thätigkeitpgo_039.020 nicht; aber diese Thätigkeit tritt nur als Staffage auf. Diese pgo_039.021 Schnitter und Winzer sind so äußerlich hineingemalt, wie ihre Aehrenbündel pgo_039.022 und Mostfässer. Jn Kleist's „Frühling“ bemerkt man hin und pgo_039.023 wieder eine pulsirende Ader der Empfindung — aber das Ganze geht pgo_039.024 ebenfalls in einem Nebeneinander von Bildern, in einer äußerlichen pgo_039.025 Breite auf. Die Aeußerlichkeit als Selbstzweck ist das Wesen der pgo_039.026 beschreibenden Dichtgattung, und damit ist sie als eine unberechtigte pgo_039.027 Zwittergattung zwischen Poesie und Malerei verurtheilt. Wenn das pgo_039.028 Aneinanderreihen todter Bilder im Raume malerisch ist: so kann die pgo_039.029 Schilderung nur dichterisch werden durch innere Bewegung. Man pgo_039.030 kann zunächst der Natur diese Bewegung leihn, indem man nicht die pgo_039.031 gewordene Gestalt festhält, sondern sie als im ewigen Proceß des pgo_039.032 Werdens begriffen darstellt. Schon an und für sich ist die Natur in pgo_039.033 Bewegung, das aufgeregte Meer, der Sturm, das Gewitter dichterisch. pgo_039.034 Man könnte sagen: „Hier ist Handlung in der Natur.“ Der Maler pgo_039.035 kann nur einen bestimmten Moment fixiren, nur diese Gestalt des Wogenschlags,
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/61>, abgerufen am 22.12.2024.
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