pgo_037.001 Farben, der Dichter durch das Nacheinander der Worte. Dieser pgo_037.002 Unterschied ist so bedeutend, daß er uns auf eine neue wesentliche Bestimmung pgo_037.003 der Poesie führen wird. Zunächst ersehen wir schon daraus, daß pgo_037.004 der Kreis der Poesie ein unendlich größerer ist, als der der Malerei! Die pgo_037.005 Malerei kann niemals eine Entwickelung geben, sie kann immer nur pgo_037.006 den Moment darstellen, und es kommt für sie wesentlich darauf an, pgo_037.007 den schlagenden Moment zu wählen, dessen Gegenwart eine so vielsagende pgo_037.008 ist, daß er zugleich die Vergangenheit zusammenfaßt und den pgo_037.009 Wiederschein der nahen Zukunft trägt. Die Poesie aber ist wesentlich pgo_037.010 Entwickelung; sie giebt eine Aufeinanderfolge der Momente, und deshalb pgo_037.011 fällt alles innere und äußere Geschehen in ihren Kreis, nicht blos pgo_037.012 die Handlung selbst, sondern auch ihre Genesis und ihre Folgen.
pgo_037.013 Man hat in der neuesten Zeit von einer Poesie des "Nebeneinander" pgo_037.014 gesprochen! Karl Gutzkow hat sie in seiner Vorrede zu den "Rittern pgo_037.015 vom Geiste" der Poesie des Nacheinander gegenübergestellt und scheint pgo_037.016 so die Dichtkunst in ein ihr fremdes, räumliches Gebiet herabzudrücken. pgo_037.017 Doch ist dies blos Schein; denn der Autor spricht nur von nebeneinanderbestehenden, pgo_037.018 concentrischen und excentrischen Lebenskreisen, die in fortwährender pgo_037.019 Rotation um ihre Mittelpunkte sind; er spricht nur von einem pgo_037.020 gleichzeitigen Geschehen, von einem "Nebeneinander" der Handlungen pgo_037.021 und Empfindungen. Und hierdurch wird sogar die Grenzlinie pgo_037.022 zwischen Poesie und Malerei noch schärfer bestimmt. Denn die Gleichzeitigkeitpgo_037.023 der Handlungen kann nur die Poesie darstellen, nicht die pgo_037.024 Malerei, obwohl sie auch ein Nebeneinander im Raume voraussetzt. pgo_037.025 Doch der Zeitbegriff ist hierbei überwiegend. Homer kann malen, was pgo_037.026 gleichzeitig auf der einen und auf der anderen Seite des Schlachtfeldes pgo_037.027 vor sich ging; er kann dies freilich nur "nacheinander" malen; die Phantasie pgo_037.028 kann die Bilder nur nacheinander aufnehmen; aber wie der Dichter pgo_037.029 durch sprachliche Bestimmungen die Gleichzeitigkeit ausdrücken kann, so pgo_037.030 kann auch die Phantasie in einem blitzartigen Moment das "Nacheinanderangeschaute" pgo_037.031 zugleich setzen. Der Maler dagegen kann nur das pgo_037.032 Eine oder das Andere malen und wenn er beides malt, so hat seine Kunst pgo_037.033 kein Mittel, das Gleichzeitige und Zusammengehörige der beiden Bilder pgo_037.034 auszudrücken.
pgo_037.035 Lessing hat diesen Unterschied im "Laokoon" scharf und schlagend
pgo_037.001 Farben, der Dichter durch das Nacheinander der Worte. Dieser pgo_037.002 Unterschied ist so bedeutend, daß er uns auf eine neue wesentliche Bestimmung pgo_037.003 der Poesie führen wird. Zunächst ersehen wir schon daraus, daß pgo_037.004 der Kreis der Poesie ein unendlich größerer ist, als der der Malerei! Die pgo_037.005 Malerei kann niemals eine Entwickelung geben, sie kann immer nur pgo_037.006 den Moment darstellen, und es kommt für sie wesentlich darauf an, pgo_037.007 den schlagenden Moment zu wählen, dessen Gegenwart eine so vielsagende pgo_037.008 ist, daß er zugleich die Vergangenheit zusammenfaßt und den pgo_037.009 Wiederschein der nahen Zukunft trägt. Die Poesie aber ist wesentlich pgo_037.010 Entwickelung; sie giebt eine Aufeinanderfolge der Momente, und deshalb pgo_037.011 fällt alles innere und äußere Geschehen in ihren Kreis, nicht blos pgo_037.012 die Handlung selbst, sondern auch ihre Genesis und ihre Folgen.
pgo_037.013 Man hat in der neuesten Zeit von einer Poesie des „Nebeneinander“ pgo_037.014 gesprochen! Karl Gutzkow hat sie in seiner Vorrede zu den „Rittern pgo_037.015 vom Geiste“ der Poesie des Nacheinander gegenübergestellt und scheint pgo_037.016 so die Dichtkunst in ein ihr fremdes, räumliches Gebiet herabzudrücken. pgo_037.017 Doch ist dies blos Schein; denn der Autor spricht nur von nebeneinanderbestehenden, pgo_037.018 concentrischen und excentrischen Lebenskreisen, die in fortwährender pgo_037.019 Rotation um ihre Mittelpunkte sind; er spricht nur von einem pgo_037.020 gleichzeitigen Geschehen, von einem „Nebeneinander“ der Handlungen pgo_037.021 und Empfindungen. Und hierdurch wird sogar die Grenzlinie pgo_037.022 zwischen Poesie und Malerei noch schärfer bestimmt. Denn die Gleichzeitigkeitpgo_037.023 der Handlungen kann nur die Poesie darstellen, nicht die pgo_037.024 Malerei, obwohl sie auch ein Nebeneinander im Raume voraussetzt. pgo_037.025 Doch der Zeitbegriff ist hierbei überwiegend. Homer kann malen, was pgo_037.026 gleichzeitig auf der einen und auf der anderen Seite des Schlachtfeldes pgo_037.027 vor sich ging; er kann dies freilich nur „nacheinander“ malen; die Phantasie pgo_037.028 kann die Bilder nur nacheinander aufnehmen; aber wie der Dichter pgo_037.029 durch sprachliche Bestimmungen die Gleichzeitigkeit ausdrücken kann, so pgo_037.030 kann auch die Phantasie in einem blitzartigen Moment das „Nacheinanderangeschaute“ pgo_037.031 zugleich setzen. Der Maler dagegen kann nur das pgo_037.032 Eine oder das Andere malen und wenn er beides malt, so hat seine Kunst pgo_037.033 kein Mittel, das Gleichzeitige und Zusammengehörige der beiden Bilder pgo_037.034 auszudrücken.
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Farben, der Dichter durch das Nacheinander der Worte. Dieser pgo_037.002
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/59>, abgerufen am 22.12.2024.
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