pgo_031.001 Sprache, kann hier auch nur die schaffende und empfangende Phantasie pgo_031.002 vermitteln. Die Sprache aber ist auch das Organ und Vehikel des pgo_031.003 gewöhnlichen Bewußtseins. Wie sich daher die dichterische Vorstellung pgo_031.004 von der gewöhnlichen unterscheidet: so die dichterische Sprache von der pgo_031.005 gewöhnlichen. Das Wort bezeichnet den Begriff und ruft das Bild pgo_031.006 hervor. Der erstere ist von selbst ausgeschlossen, da wir uns nicht im pgo_031.007 Reiche des Begriffes, sondern im Reiche der Vorstellung bewegen; auf pgo_031.008 dem zweiten nur beruht die Macht der Poesie. Doch das dichterische pgo_031.009 Bildniß ist die idealisirte Vorstellung, und nur das idealisirte Wort kann pgo_031.010 dies Bild erwecken. Je geistiger der Stoff, das ganze Reich der Poesie pgo_031.011 ist: desto sinnlicher muß ihr Vehikel, das Wort sein. Die künstlerische pgo_031.012 Jdealität des Wortes ist seine Sinnlichkeit; das dichterische Wort muß pgo_031.013 eine concentrirte Sinnlichkeit athmen. Die Sprache hat ihre Malerei, pgo_031.014 ihre Musik, und nur durch sie wirkt die Dichtkunst. Das Malerische der pgo_031.015 Sprache beruht auf einer Wahl und Zusammenstellung der Worte, durch pgo_031.016 welche das Bild in klaren Umrissen, in farbenprächtiger Fülle wie mit pgo_031.017 einem Zauberschlage vor der Seele steht. Welche Magie, welchen Duft pgo_031.018 schon das einzelne Wort haben kann: das zeigen hundert Beispiele aller pgo_031.019 großen Dichter. Das rechte Wort ist immer Offenbarung des Genius; pgo_031.020 kein Röhrenwerk pumpt es hervor. Die Musik der Sprache aber, durch pgo_031.021 welche die dichterische sich über die gewöhnliche erhebt, besteht nicht blos pgo_031.022 im Wohlklang, der Mißtönendes ausschließt; sie besteht im geregelten pgo_031.023 Gang der Sprache, deren Maß und Gewicht sich in tactmäßiger Folge pgo_031.024 geltend macht; sie besteht im wiederkehrenden Zusammenklang, der pgo_031.025 zugleich einschmeichelnd und befriedigend das Ohr gefangen nimmt. pgo_031.026 Erst in dieser geläuterten Gestalt wird die Sprache aus einem Medium pgo_031.027 des täglichen Verkehrs und des gemeinen Verständnisses die lebensvolle pgo_031.028 Trägerin des dichterischen Gedankens. Die Sprache aber gerade ist es, pgo_031.029 welche der Dichtkunst das Uebergewicht über die anderen Künste verleiht pgo_031.030 in Bezug auf die Fülle und Tiefe des Jnhaltes, den sie auszudrücken pgo_031.031 vermag. Dem Dichter "gab ein Gott, zu sagen, was er leide." Dies pgo_031.032 Sagen erst entbindet die innerste Empfindung, und zwar mit jener pgo_031.033 Bestimmtheit, welche das Hin- und Herwogen der Töne vergeblich auszudrücken pgo_031.034 ringt; dies Sagen erst entfesselt die Zunge dem plastischen pgo_031.035 "Laokoon," dem sogar der Ausschrei des Schmerzes verwehrt ist, und entrollt
pgo_031.001 Sprache, kann hier auch nur die schaffende und empfangende Phantasie pgo_031.002 vermitteln. Die Sprache aber ist auch das Organ und Vehikel des pgo_031.003 gewöhnlichen Bewußtseins. Wie sich daher die dichterische Vorstellung pgo_031.004 von der gewöhnlichen unterscheidet: so die dichterische Sprache von der pgo_031.005 gewöhnlichen. Das Wort bezeichnet den Begriff und ruft das Bild pgo_031.006 hervor. Der erstere ist von selbst ausgeschlossen, da wir uns nicht im pgo_031.007 Reiche des Begriffes, sondern im Reiche der Vorstellung bewegen; auf pgo_031.008 dem zweiten nur beruht die Macht der Poesie. Doch das dichterische pgo_031.009 Bildniß ist die idealisirte Vorstellung, und nur das idealisirte Wort kann pgo_031.010 dies Bild erwecken. Je geistiger der Stoff, das ganze Reich der Poesie pgo_031.011 ist: desto sinnlicher muß ihr Vehikel, das Wort sein. Die künstlerische pgo_031.012 Jdealität des Wortes ist seine Sinnlichkeit; das dichterische Wort muß pgo_031.013 eine concentrirte Sinnlichkeit athmen. Die Sprache hat ihre Malerei, pgo_031.014 ihre Musik, und nur durch sie wirkt die Dichtkunst. Das Malerische der pgo_031.015 Sprache beruht auf einer Wahl und Zusammenstellung der Worte, durch pgo_031.016 welche das Bild in klaren Umrissen, in farbenprächtiger Fülle wie mit pgo_031.017 einem Zauberschlage vor der Seele steht. Welche Magie, welchen Duft pgo_031.018 schon das einzelne Wort haben kann: das zeigen hundert Beispiele aller pgo_031.019 großen Dichter. Das rechte Wort ist immer Offenbarung des Genius; pgo_031.020 kein Röhrenwerk pumpt es hervor. Die Musik der Sprache aber, durch pgo_031.021 welche die dichterische sich über die gewöhnliche erhebt, besteht nicht blos pgo_031.022 im Wohlklang, der Mißtönendes ausschließt; sie besteht im geregelten pgo_031.023 Gang der Sprache, deren Maß und Gewicht sich in tactmäßiger Folge pgo_031.024 geltend macht; sie besteht im wiederkehrenden Zusammenklang, der pgo_031.025 zugleich einschmeichelnd und befriedigend das Ohr gefangen nimmt. pgo_031.026 Erst in dieser geläuterten Gestalt wird die Sprache aus einem Medium pgo_031.027 des täglichen Verkehrs und des gemeinen Verständnisses die lebensvolle pgo_031.028 Trägerin des dichterischen Gedankens. Die Sprache aber gerade ist es, pgo_031.029 welche der Dichtkunst das Uebergewicht über die anderen Künste verleiht pgo_031.030 in Bezug auf die Fülle und Tiefe des Jnhaltes, den sie auszudrücken pgo_031.031 vermag. Dem Dichter „gab ein Gott, zu sagen, was er leide.“ Dies pgo_031.032 Sagen erst entbindet die innerste Empfindung, und zwar mit jener pgo_031.033 Bestimmtheit, welche das Hin- und Herwogen der Töne vergeblich auszudrücken pgo_031.034 ringt; dies Sagen erst entfesselt die Zunge dem plastischen pgo_031.035 „Laokoon,“ dem sogar der Ausschrei des Schmerzes verwehrt ist, und entrollt
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Sprache, kann hier auch nur die schaffende und empfangende Phantasie pgo_031.002
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/53>, abgerufen am 22.11.2024.
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