pgo_476.001 flüchtigen Schilderhebungen der Tageskritik und ihren ebenso vergänglichen Angriffen, pgo_476.002 kann zwischen dem innern Werthe eines Talents und seiner öffentlichen Anerkennung ein pgo_476.003 Mißverhältniß bestehn, das vielleicht schon die nächste Zukunft in befriedigender Weise pgo_476.004 löst. Hier wird der ästhetische Sinn mit unmittelbarem Empfinden das Richtige pgo_476.005 treffen, während die kritische Analyse mit eingehenden Erörterungen oft fehlgreift. Dennoch pgo_476.006 bedarf gerade eine Literaturgeschichte der Gegenwart mehr als jede andere der Volständigkeit;pgo_476.007 denn nur eine sich überhebende Dreistigkeit kann in einer so naheliegenden pgo_476.008 Epoche von der Unfehlbarkeit ihrer Urtheile überzeugt sein. Das Auslassen und pgo_476.009 Uebergehn von Autoren, die irgend ein Publikum haben, ist aber immer ein Act kritischer pgo_476.010 Anmaßung, wenn es nicht eine Folge der Nachläßigkeit und Trägheit ist.
pgo_476.011 Was nun aber jene Behauptung betrifft, unsere deutsche Nationalliteratur sei im pgo_476.012 Verfall begriffen oder habe mit Schiller, Goethe und den Classikern den geistigen Boden pgo_476.013 so erschöpft, daß er, um sich zu erholen, einige Zeit brach liegen müsse, so befinden wir pgo_476.014 uns, ohne die neueren literarischen Entwicklungen zu überschätzen, doch mit ihr im vollkommensten pgo_476.015 Widerspruch. Seit Schiller und Goethe hat sich der Völkerverkehr und der pgo_476.016 Umsatz der Jdeen in seltener Weise vermehrt. Durch großartige Erfindungen der pgo_476.017 Jndustrie und ihre Anwendung haben die Beziehungen der Völker, hat der Pulsschlag pgo_476.018 des ganzen socialen Lebens eine Frische und Kraft erhalten, wie sie jener Zeit fremd war. pgo_476.019 Jn der Philosophie sind neue Bahnen gebrochen worden; in der Politik hat, wenn auch pgo_476.020 oft mit verkehrten Tendenzen, oft resultatlos, doch der Aufschwung einer principiellen pgo_476.021 Begeisterung die Nationen erfaßt, der zu allen Zeiten dem Gedeihen der Poesie günstig pgo_476.022 war. Mag auch das allgemein Menschliche der wahre und dauernde Stoff der echten pgo_476.023 Dichtung sein und ebenso dauernd das Gesetz der Schönheit und der künstlerischen pgo_476.024 Form: so ist doch der Wechsel der Erscheinung der frische Quell, aus welchem die Dichtung pgo_476.025 den Reiz immer neuer Verjüngung schöpft. Jn der Flucht der Zeiten, der pgo_476.026 Geschlechter, der Nationen erhält das allgemeine Gesetz den wechselnden Jnhalt für seine pgo_476.027 dauernde Bewährung, und jede neue Gestaltung des geistigen Lebens giebt der Dichtung pgo_476.028 neuen Boden und neue Kraft. So reich, so reizvoll das Spiel der dichterischen Jndividualitäten pgo_476.029 ist, der einzelnen Talente und ihrer unberechenbaren Mannichfaltigkeit: so pgo_476.030 reich ist der Wechsel der Gewandung, in die jede neue Zeit die Schönheit hüllt. Die pgo_476.031 unsrige giebt der Dichtung ein weiteres Feld, größere Perspectiven und reicheren Stoff, pgo_476.032 als die Zeit Schiller's und Goethe's ihren Poeten gab. Dies deutet aber eine neue pgo_476.033 Epoche an, welche die Talente beginnen, und der Genius wird nicht fehlen, der sie zum pgo_476.034 Abschluß bringt. Sehen wir uns um in den einzelnen poetischen Gattungen, so hat pgo_476.035 besonders die Lyrik seit Schiller und Goethe einen vollkommenen und bedeutenden Umschwung pgo_476.036 erlebt. Die Volksthümlichkeit der Schiller'schen und Goethe'schen Lyrik beruht pgo_476.037 auf dem Genie der Dichter, keineswegs auf den Stoffen, die sie behandelten. Diese pgo_476.038 Stoffe gehören, mit wenigen Ausnahmen, in das Reich der Kunst- und Gelehrtenpoesie,pgo_476.039 und Niemand wird behaupten wollen, daß der mythologische Ballast, den sie pgo_476.040 mit sich führen, ein wesentliches Jngredienz der deutschen Nationaldichtung sei. Die pgo_476.041 Anlehnung an die antike Bildung war der Entwickelung ohne Zweifel förderlich; aber pgo_476.042 viel Bewundertes, was sie schuf, gehört mehr in die Künstlermappe, als in das Nationalmuseum pgo_476.043 und erhebt sich nicht über den Werth der Studie. Und mit Studien sollte pgo_476.044 eine nationale Entwicklung abschließen? Die neue Lyrik verschmäht es mit Recht, die pgo_476.045 früher für unentbehrlich gehaltene Mythologie in ihre Schöpfungen aufzunehmen und pgo_476.046 dadurch die Dichtung dem Volke zu entfremden. Welchen Reichthum von neuen Stoffen pgo_476.047 hat sie uns erschlossen, und wahrlich, nicht gering sind die Talente, welche sich dieser pgo_476.048 Stoffe bemächtigt! Platen's marmorne Formschönheit, Heine's aristophanische pgo_476.049 Grazie, Lenau's originelle Gefühls- und Gedankentiefe, der Schwung der politischen pgo_476.050 Lyriker, und alle diese Dichter aus uns'rem eigensten Leben schöpfend und eine neue und pgo_476.051 ideale Volkspoesie gestaltend -- sind sie nicht mehr, als Epigonen unserer Classiker, pgo_476.052 weisen sie nicht in die Zukunft hinaus? Man spricht vom Verfalle des Drama; und pgo_476.053 in der That ist hier noch viel blindes Umhertappen, das Suchen der Form zu den neuen pgo_476.054 Stoffen vorherrschend. Aber ist es nicht ein wesentlicher Fortschritt, daß unsere neuen pgo_476.055 Talente Stoffe wählen, denen die Sympathie des Publicums entgegenkommt, daß sie pgo_476.056 die von den Romantikern aufgegebene Bühne wieder für ihre Bestrebungen zu erobern pgo_476.057 suchen? Und wenn sie die Herrschaft über dieselbe mit den gedankenlosen Routiniers der pgo_476.058 Dramenfabriken theilen müssen -- haben nicht Kotzebue und Jffland neben Schiller pgo_476.059 und Goethe das Repertoire beherrscht? Ja, sind nicht die meisten Stücke Goethe's nur
pgo_476.001 flüchtigen Schilderhebungen der Tageskritik und ihren ebenso vergänglichen Angriffen, pgo_476.002 kann zwischen dem innern Werthe eines Talents und seiner öffentlichen Anerkennung ein pgo_476.003 Mißverhältniß bestehn, das vielleicht schon die nächste Zukunft in befriedigender Weise pgo_476.004 löst. Hier wird der ästhetische Sinn mit unmittelbarem Empfinden das Richtige pgo_476.005 treffen, während die kritische Analyse mit eingehenden Erörterungen oft fehlgreift. Dennoch pgo_476.006 bedarf gerade eine Literaturgeschichte der Gegenwart mehr als jede andere der Volständigkeit;pgo_476.007 denn nur eine sich überhebende Dreistigkeit kann in einer so naheliegenden pgo_476.008 Epoche von der Unfehlbarkeit ihrer Urtheile überzeugt sein. Das Auslassen und pgo_476.009 Uebergehn von Autoren, die irgend ein Publikum haben, ist aber immer ein Act kritischer pgo_476.010 Anmaßung, wenn es nicht eine Folge der Nachläßigkeit und Trägheit ist.
pgo_476.011 Was nun aber jene Behauptung betrifft, unsere deutsche Nationalliteratur sei im pgo_476.012 Verfall begriffen oder habe mit Schiller, Goethe und den Classikern den geistigen Boden pgo_476.013 so erschöpft, daß er, um sich zu erholen, einige Zeit brach liegen müsse, so befinden wir pgo_476.014 uns, ohne die neueren literarischen Entwicklungen zu überschätzen, doch mit ihr im vollkommensten pgo_476.015 Widerspruch. Seit Schiller und Goethe hat sich der Völkerverkehr und der pgo_476.016 Umsatz der Jdeen in seltener Weise vermehrt. Durch großartige Erfindungen der pgo_476.017 Jndustrie und ihre Anwendung haben die Beziehungen der Völker, hat der Pulsschlag pgo_476.018 des ganzen socialen Lebens eine Frische und Kraft erhalten, wie sie jener Zeit fremd war. pgo_476.019 Jn der Philosophie sind neue Bahnen gebrochen worden; in der Politik hat, wenn auch pgo_476.020 oft mit verkehrten Tendenzen, oft resultatlos, doch der Aufschwung einer principiellen pgo_476.021 Begeisterung die Nationen erfaßt, der zu allen Zeiten dem Gedeihen der Poesie günstig pgo_476.022 war. Mag auch das allgemein Menschliche der wahre und dauernde Stoff der echten pgo_476.023 Dichtung sein und ebenso dauernd das Gesetz der Schönheit und der künstlerischen pgo_476.024 Form: so ist doch der Wechsel der Erscheinung der frische Quell, aus welchem die Dichtung pgo_476.025 den Reiz immer neuer Verjüngung schöpft. Jn der Flucht der Zeiten, der pgo_476.026 Geschlechter, der Nationen erhält das allgemeine Gesetz den wechselnden Jnhalt für seine pgo_476.027 dauernde Bewährung, und jede neue Gestaltung des geistigen Lebens giebt der Dichtung pgo_476.028 neuen Boden und neue Kraft. So reich, so reizvoll das Spiel der dichterischen Jndividualitäten pgo_476.029 ist, der einzelnen Talente und ihrer unberechenbaren Mannichfaltigkeit: so pgo_476.030 reich ist der Wechsel der Gewandung, in die jede neue Zeit die Schönheit hüllt. Die pgo_476.031 unsrige giebt der Dichtung ein weiteres Feld, größere Perspectiven und reicheren Stoff, pgo_476.032 als die Zeit Schiller's und Goethe's ihren Poeten gab. Dies deutet aber eine neue pgo_476.033 Epoche an, welche die Talente beginnen, und der Genius wird nicht fehlen, der sie zum pgo_476.034 Abschluß bringt. Sehen wir uns um in den einzelnen poetischen Gattungen, so hat pgo_476.035 besonders die Lyrik seit Schiller und Goethe einen vollkommenen und bedeutenden Umschwung pgo_476.036 erlebt. Die Volksthümlichkeit der Schiller'schen und Goethe'schen Lyrik beruht pgo_476.037 auf dem Genie der Dichter, keineswegs auf den Stoffen, die sie behandelten. Diese pgo_476.038 Stoffe gehören, mit wenigen Ausnahmen, in das Reich der Kunst- und Gelehrtenpoesie,pgo_476.039 und Niemand wird behaupten wollen, daß der mythologische Ballast, den sie pgo_476.040 mit sich führen, ein wesentliches Jngredienz der deutschen Nationaldichtung sei. Die pgo_476.041 Anlehnung an die antike Bildung war der Entwickelung ohne Zweifel förderlich; aber pgo_476.042 viel Bewundertes, was sie schuf, gehört mehr in die Künstlermappe, als in das Nationalmuseum pgo_476.043 und erhebt sich nicht über den Werth der Studie. Und mit Studien sollte pgo_476.044 eine nationale Entwicklung abschließen? Die neue Lyrik verschmäht es mit Recht, die pgo_476.045 früher für unentbehrlich gehaltene Mythologie in ihre Schöpfungen aufzunehmen und pgo_476.046 dadurch die Dichtung dem Volke zu entfremden. Welchen Reichthum von neuen Stoffen pgo_476.047 hat sie uns erschlossen, und wahrlich, nicht gering sind die Talente, welche sich dieser pgo_476.048 Stoffe bemächtigt! Platen's marmorne Formschönheit, Heine's aristophanische pgo_476.049 Grazie, Lenau's originelle Gefühls- und Gedankentiefe, der Schwung der politischen pgo_476.050 Lyriker, und alle diese Dichter aus uns'rem eigensten Leben schöpfend und eine neue und pgo_476.051 ideale Volkspoesie gestaltend — sind sie nicht mehr, als Epigonen unserer Classiker, pgo_476.052 weisen sie nicht in die Zukunft hinaus? Man spricht vom Verfalle des Drama; und pgo_476.053 in der That ist hier noch viel blindes Umhertappen, das Suchen der Form zu den neuen pgo_476.054 Stoffen vorherrschend. Aber ist es nicht ein wesentlicher Fortschritt, daß unsere neuen pgo_476.055 Talente Stoffe wählen, denen die Sympathie des Publicums entgegenkommt, daß sie pgo_476.056 die von den Romantikern aufgegebene Bühne wieder für ihre Bestrebungen zu erobern pgo_476.057 suchen? Und wenn sie die Herrschaft über dieselbe mit den gedankenlosen Routiniers der pgo_476.058 Dramenfabriken theilen müssen — haben nicht Kotzebue und Jffland neben Schiller pgo_476.059 und Goethe das Repertoire beherrscht? Ja, sind nicht die meisten Stücke Goethe's nur
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flüchtigen Schilderhebungen der Tageskritik und ihren ebenso vergänglichen Angriffen, pgo_476.002
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Mißverhältniß bestehn, das vielleicht schon die nächste Zukunft in befriedigender Weise pgo_476.004
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bedarf gerade eine Literaturgeschichte der Gegenwart mehr als jede andere der Volständigkeit; pgo_476.007
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Uebergehn von Autoren, die irgend ein Publikum haben, ist aber immer ein Act kritischer pgo_476.010
Anmaßung, wenn es nicht eine Folge der Nachläßigkeit und Trägheit ist.
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Was nun aber jene Behauptung betrifft, unsere deutsche Nationalliteratur sei im pgo_476.012
Verfall begriffen oder habe mit Schiller, Goethe und den Classikern den geistigen Boden pgo_476.013
so erschöpft, daß er, um sich zu erholen, einige Zeit brach liegen müsse, so befinden wir pgo_476.014
uns, ohne die neueren literarischen Entwicklungen zu überschätzen, doch mit ihr im vollkommensten pgo_476.015
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des ganzen socialen Lebens eine Frische und Kraft erhalten, wie sie jener Zeit fremd war. pgo_476.019
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Geschlechter, der Nationen erhält das allgemeine Gesetz den wechselnden Jnhalt für seine pgo_476.027
dauernde Bewährung, und jede neue Gestaltung des geistigen Lebens giebt der Dichtung pgo_476.028
neuen Boden und neue Kraft. So reich, so reizvoll das Spiel der dichterischen Jndividualitäten pgo_476.029
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reich ist der Wechsel der Gewandung, in die jede neue Zeit die Schönheit hüllt. Die pgo_476.031
unsrige giebt der Dichtung ein weiteres Feld, größere Perspectiven und reicheren Stoff, pgo_476.032
als die Zeit Schiller's und Goethe's ihren Poeten gab. Dies deutet aber eine neue pgo_476.033
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besonders die Lyrik seit Schiller und Goethe einen vollkommenen und bedeutenden Umschwung pgo_476.036
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Anlehnung an die antike Bildung war der Entwickelung ohne Zweifel förderlich; aber pgo_476.042
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und erhebt sich nicht über den Werth der Studie. Und mit Studien sollte pgo_476.044
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weisen sie nicht in die Zukunft hinaus? Man spricht vom Verfalle des Drama; und pgo_476.053
in der That ist hier noch viel blindes Umhertappen, das Suchen der Form zu den neuen pgo_476.054
Stoffen vorherrschend. Aber ist es nicht ein wesentlicher Fortschritt, daß unsere neuen pgo_476.055
Talente Stoffe wählen, denen die Sympathie des Publicums entgegenkommt, daß sie pgo_476.056
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/498>, abgerufen am 25.11.2024.
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