Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite
pgo_471.001
3. Das historische Lustspiel.

pgo_471.002
Jn dieser noch jungen Lustspielform, welche der letzten Epoche angehört, pgo_471.003
finden wir eine Vereinigung des idealistischen und realistischen pgo_471.004
Lustspiels
oder mindestens den Ansatz dazu. Die Tragödie hat in ihren pgo_471.005
ernsten Konflikten nicht Raum für das, was wir den Humor der pgo_471.006
Weltgeschichte
nennen möchten, ein Humor, der keineswegs auf den pgo_471.007
Standpunkt des Kammerdieners gehört, für welchen es keinen Helden pgo_471.008
giebt. Der Humor des historischen Lustspieles besteht darin, daß es nachweist, pgo_471.009
wie der geschichtliche Held nie ganz in seiner Mission aufgeht, wie pgo_471.010
ein Rest rein menschlicher Unangemessenheit übrig bleibt, der uns nicht pgo_471.011
nur deshalb heiter stimmt, weil er diese hervorragenden Persönlichkeiten pgo_471.012
der Geschichte uns andern Sterblichen nähert, sondern weil wir alles pgo_471.013
menschliche Treiben als verschwindend gegen die höhere Macht der pgo_471.014
Geschichte erkennen. Wird der Ton allein auf die Bedeutung des Kleinen, pgo_471.015
auf die nichtigen Ursachen großer Wirkungen gelegt, wie z. B. in pgo_471.016
Scribe's "Glas Wasser," so tritt eine einseitige Jronie an die Stelle pgo_471.017
des Humors, der in seine Charakterbilder auch die positive Größe mitaufzunehmen pgo_471.018
vermag; denn der Humor umspannt das Große und Kleine pgo_471.019
zugleich. Wir erhalten ein Jntriguenstück auf historischer Grundlage. pgo_471.020
Das echte historische Lustspiel dagegen vereinigt ideale Tiefe mit realistischer pgo_471.021
Darstellung, indem es uns mit vollen Farben ausgeführte Charakterbilder pgo_471.022
am Faden einer einheitlichen Handlung vorführt. Es pgo_471.023
darf sich an die größten Helden der Geschichte wagen, wenn es nur die pgo_471.024
Kraft besitzt, sie mit einem Humor darzustellen, der ihren komisch ausgemalten pgo_471.025
menschlichen Schwächen nicht ihre geschichtliche Bedeutung opfert. pgo_471.026
Rühmenswerthe Anfänge auf diesem Gebiete sind Gutzkow's "Urbild pgo_471.027
des Tartüffe" und besonders "Zopf und Schwert," Stücke, denen ich mit pgo_471.028
meinem "Pitt und Fox" mich angeschlossen habe.

pgo_471.029
Wir könnten hier noch das Feuilleton der Bühne, das einaktige pgo_471.030
Lustspiel, die Bluette, erwähnen, in welcher eine einfache Verwicklung, pgo_471.031
eine durchsichtige Handlung sich zu einer anmuthigen Pointe zuspitzt, ferner pgo_471.032
das sogenannte Schubladenstück, die Bluette schauspielerischer pgo_471.033
Virtuosität, in welchem dem Darsteller Gelegenheit geboten wird, seine pgo_471.034
Fertigkeit in der raschen Aufeinanderfolge verschiedener Masken zu zeigen;

pgo_471.001
3. Das historische Lustspiel.

pgo_471.002
Jn dieser noch jungen Lustspielform, welche der letzten Epoche angehört, pgo_471.003
finden wir eine Vereinigung des idealistischen und realistischen pgo_471.004
Lustspiels
oder mindestens den Ansatz dazu. Die Tragödie hat in ihren pgo_471.005
ernsten Konflikten nicht Raum für das, was wir den Humor der pgo_471.006
Weltgeschichte
nennen möchten, ein Humor, der keineswegs auf den pgo_471.007
Standpunkt des Kammerdieners gehört, für welchen es keinen Helden pgo_471.008
giebt. Der Humor des historischen Lustspieles besteht darin, daß es nachweist, pgo_471.009
wie der geschichtliche Held nie ganz in seiner Mission aufgeht, wie pgo_471.010
ein Rest rein menschlicher Unangemessenheit übrig bleibt, der uns nicht pgo_471.011
nur deshalb heiter stimmt, weil er diese hervorragenden Persönlichkeiten pgo_471.012
der Geschichte uns andern Sterblichen nähert, sondern weil wir alles pgo_471.013
menschliche Treiben als verschwindend gegen die höhere Macht der pgo_471.014
Geschichte erkennen. Wird der Ton allein auf die Bedeutung des Kleinen, pgo_471.015
auf die nichtigen Ursachen großer Wirkungen gelegt, wie z. B. in pgo_471.016
Scribe's „Glas Wasser,“ so tritt eine einseitige Jronie an die Stelle pgo_471.017
des Humors, der in seine Charakterbilder auch die positive Größe mitaufzunehmen pgo_471.018
vermag; denn der Humor umspannt das Große und Kleine pgo_471.019
zugleich. Wir erhalten ein Jntriguenstück auf historischer Grundlage. pgo_471.020
Das echte historische Lustspiel dagegen vereinigt ideale Tiefe mit realistischer pgo_471.021
Darstellung, indem es uns mit vollen Farben ausgeführte Charakterbilder pgo_471.022
am Faden einer einheitlichen Handlung vorführt. Es pgo_471.023
darf sich an die größten Helden der Geschichte wagen, wenn es nur die pgo_471.024
Kraft besitzt, sie mit einem Humor darzustellen, der ihren komisch ausgemalten pgo_471.025
menschlichen Schwächen nicht ihre geschichtliche Bedeutung opfert. pgo_471.026
Rühmenswerthe Anfänge auf diesem Gebiete sind Gutzkow's „Urbild pgo_471.027
des Tartüffe“ und besonders „Zopf und Schwert,“ Stücke, denen ich mit pgo_471.028
meinem „Pitt und Fox“ mich angeschlossen habe.

pgo_471.029
Wir könnten hier noch das Feuilleton der Bühne, das einaktige pgo_471.030
Lustspiel, die Bluette, erwähnen, in welcher eine einfache Verwicklung, pgo_471.031
eine durchsichtige Handlung sich zu einer anmuthigen Pointe zuspitzt, ferner pgo_471.032
das sogenannte Schubladenstück, die Bluette schauspielerischer pgo_471.033
Virtuosität, in welchem dem Darsteller Gelegenheit geboten wird, seine pgo_471.034
Fertigkeit in der raschen Aufeinanderfolge verschiedener Masken zu zeigen;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0493" n="471"/>
                </div>
              </div>
              <div n="5">
                <lb n="pgo_471.001"/>
                <head> <hi rendition="#c">3. Das historische Lustspiel.</hi> </head>
                <p><lb n="pgo_471.002"/>
Jn dieser noch jungen Lustspielform, welche der letzten Epoche angehört, <lb n="pgo_471.003"/>
finden wir eine Vereinigung des <hi rendition="#g">idealistischen</hi> und <hi rendition="#g">realistischen <lb n="pgo_471.004"/>
Lustspiels</hi> oder mindestens den Ansatz dazu. Die Tragödie hat in ihren <lb n="pgo_471.005"/>
ernsten Konflikten nicht Raum für das, was wir den <hi rendition="#g">Humor der <lb n="pgo_471.006"/>
Weltgeschichte</hi> nennen möchten, ein Humor, der keineswegs auf den <lb n="pgo_471.007"/>
Standpunkt des Kammerdieners gehört, für welchen es keinen <hi rendition="#g">Helden</hi> <lb n="pgo_471.008"/>
giebt. Der Humor des historischen Lustspieles besteht darin, daß es nachweist, <lb n="pgo_471.009"/>
wie der geschichtliche Held nie ganz in seiner Mission aufgeht, wie <lb n="pgo_471.010"/>
ein Rest rein menschlicher Unangemessenheit übrig bleibt, der uns nicht <lb n="pgo_471.011"/>
nur deshalb heiter stimmt, weil er diese hervorragenden Persönlichkeiten <lb n="pgo_471.012"/>
der Geschichte uns andern Sterblichen nähert, sondern weil wir alles <lb n="pgo_471.013"/>
menschliche Treiben als verschwindend gegen die höhere Macht der <lb n="pgo_471.014"/>
Geschichte erkennen. Wird der Ton allein auf die Bedeutung des Kleinen, <lb n="pgo_471.015"/>
auf die nichtigen Ursachen großer Wirkungen gelegt, wie z. B. in <lb n="pgo_471.016"/>
Scribe's &#x201E;<hi rendition="#g">Glas Wasser,</hi>&#x201C; so tritt eine einseitige Jronie an die Stelle <lb n="pgo_471.017"/>
des Humors, der in seine Charakterbilder auch die positive Größe mitaufzunehmen <lb n="pgo_471.018"/>
vermag; denn der Humor umspannt das Große und Kleine <lb n="pgo_471.019"/>
zugleich. Wir erhalten ein Jntriguenstück auf historischer Grundlage. <lb n="pgo_471.020"/>
Das echte historische Lustspiel dagegen vereinigt ideale Tiefe mit realistischer <lb n="pgo_471.021"/>
Darstellung, indem es uns mit vollen Farben ausgeführte Charakterbilder <lb n="pgo_471.022"/>
am Faden einer einheitlichen Handlung vorführt. Es <lb n="pgo_471.023"/>
darf sich an die größten Helden der Geschichte wagen, wenn es nur die <lb n="pgo_471.024"/>
Kraft besitzt, sie mit einem Humor darzustellen, der ihren komisch ausgemalten <lb n="pgo_471.025"/>
menschlichen Schwächen nicht ihre geschichtliche Bedeutung opfert. <lb n="pgo_471.026"/>
Rühmenswerthe Anfänge auf diesem Gebiete sind <hi rendition="#g">Gutzkow's</hi> &#x201E;Urbild <lb n="pgo_471.027"/>
des Tartüffe&#x201C; und besonders &#x201E;Zopf und Schwert,&#x201C; Stücke, denen ich mit <lb n="pgo_471.028"/>
meinem &#x201E;Pitt und Fox&#x201C; mich angeschlossen habe.</p>
                <p><lb n="pgo_471.029"/>
Wir könnten hier noch das <hi rendition="#g">Feuilleton der Bühne,</hi> das einaktige <lb n="pgo_471.030"/>
Lustspiel, die <hi rendition="#g">Bluette,</hi> erwähnen, in welcher eine einfache Verwicklung, <lb n="pgo_471.031"/>
eine durchsichtige Handlung sich zu einer anmuthigen Pointe zuspitzt, ferner <lb n="pgo_471.032"/>
das sogenannte <hi rendition="#g">Schubladenstück,</hi> die Bluette schauspielerischer <lb n="pgo_471.033"/>
Virtuosität, in welchem dem Darsteller Gelegenheit geboten wird, seine <lb n="pgo_471.034"/>
Fertigkeit in der raschen Aufeinanderfolge verschiedener Masken zu zeigen;
</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[471/0493] pgo_471.001 3. Das historische Lustspiel. pgo_471.002 Jn dieser noch jungen Lustspielform, welche der letzten Epoche angehört, pgo_471.003 finden wir eine Vereinigung des idealistischen und realistischen pgo_471.004 Lustspiels oder mindestens den Ansatz dazu. Die Tragödie hat in ihren pgo_471.005 ernsten Konflikten nicht Raum für das, was wir den Humor der pgo_471.006 Weltgeschichte nennen möchten, ein Humor, der keineswegs auf den pgo_471.007 Standpunkt des Kammerdieners gehört, für welchen es keinen Helden pgo_471.008 giebt. Der Humor des historischen Lustspieles besteht darin, daß es nachweist, pgo_471.009 wie der geschichtliche Held nie ganz in seiner Mission aufgeht, wie pgo_471.010 ein Rest rein menschlicher Unangemessenheit übrig bleibt, der uns nicht pgo_471.011 nur deshalb heiter stimmt, weil er diese hervorragenden Persönlichkeiten pgo_471.012 der Geschichte uns andern Sterblichen nähert, sondern weil wir alles pgo_471.013 menschliche Treiben als verschwindend gegen die höhere Macht der pgo_471.014 Geschichte erkennen. Wird der Ton allein auf die Bedeutung des Kleinen, pgo_471.015 auf die nichtigen Ursachen großer Wirkungen gelegt, wie z. B. in pgo_471.016 Scribe's „Glas Wasser,“ so tritt eine einseitige Jronie an die Stelle pgo_471.017 des Humors, der in seine Charakterbilder auch die positive Größe mitaufzunehmen pgo_471.018 vermag; denn der Humor umspannt das Große und Kleine pgo_471.019 zugleich. Wir erhalten ein Jntriguenstück auf historischer Grundlage. pgo_471.020 Das echte historische Lustspiel dagegen vereinigt ideale Tiefe mit realistischer pgo_471.021 Darstellung, indem es uns mit vollen Farben ausgeführte Charakterbilder pgo_471.022 am Faden einer einheitlichen Handlung vorführt. Es pgo_471.023 darf sich an die größten Helden der Geschichte wagen, wenn es nur die pgo_471.024 Kraft besitzt, sie mit einem Humor darzustellen, der ihren komisch ausgemalten pgo_471.025 menschlichen Schwächen nicht ihre geschichtliche Bedeutung opfert. pgo_471.026 Rühmenswerthe Anfänge auf diesem Gebiete sind Gutzkow's „Urbild pgo_471.027 des Tartüffe“ und besonders „Zopf und Schwert,“ Stücke, denen ich mit pgo_471.028 meinem „Pitt und Fox“ mich angeschlossen habe. pgo_471.029 Wir könnten hier noch das Feuilleton der Bühne, das einaktige pgo_471.030 Lustspiel, die Bluette, erwähnen, in welcher eine einfache Verwicklung, pgo_471.031 eine durchsichtige Handlung sich zu einer anmuthigen Pointe zuspitzt, ferner pgo_471.032 das sogenannte Schubladenstück, die Bluette schauspielerischer pgo_471.033 Virtuosität, in welchem dem Darsteller Gelegenheit geboten wird, seine pgo_471.034 Fertigkeit in der raschen Aufeinanderfolge verschiedener Masken zu zeigen;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/493
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/493>, abgerufen am 25.11.2024.