Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_450.001
blutigen Werkzeuges, eines Malerzeichens, oder ein umherwandelndes pgo_450.002
Gespenst der Vorzeit, eine Ahnfrau, wurden die göttlichen Mächte dieser pgo_450.003
von Platen meisterhaft verspotteten Tragödie, denen die Entsühnung pgo_450.004
eines Oedipus und Orestes gänzlich fehlen mußte. Doch auch abgesehn pgo_450.005
von dieser längst verurtheilten Verkehrtheit wird die Wahl antikmythischer pgo_450.006
Vorwürfe, die in der neuesten Zeit wieder beliebt ist, trotz der Versündigung pgo_450.007
gegen den Geist des Jahrhunderts, von der sie nicht freizusprechen pgo_450.008
ist, unfehlbar in jene Bahnen einer monoton korrekten, leb- und pgo_450.009
geistlosen Form führen, welche die klassische Richtung der französischen pgo_450.010
Bühne vertritt.

pgo_450.011
Die moderne Tragödie, deren antikisirende Formen wir eben in's pgo_450.012
Auge gefaßt, hat außer dem klassischen Theater der Franzosen noch drei pgo_450.013
Höhepunkte ihrer Entwickelung: das altspanische Theater zur Zeit Lope pgo_450.014
de Vega's und Calderon's, das altenglische zur Zeit Shakespeare's und pgo_450.015
das neuere deutsche zur Zeit Schiller's und Goethe's. Die Enge der pgo_450.016
aristotelischen Regeln, an denen noch Cervantes festhielt, wurde schon pgo_450.017
von der Romantik seiner Nachfolger gesprengt. Der geniale Lope pgo_450.018
de Vega, der zahllose Tragödieen mit der Feder improvisirte, wählte mit pgo_450.019
Vorliebe historische Stoffe aus der Geschichte seines Vaterlandes (die pgo_450.020
Juden von Toledo, der letzte Gothe Spaniens, der König Wamba, der pgo_450.021
erste König von Kastilien u. a.), doch hat er auch die Horatier und Kuriatier, pgo_450.022
Kaiser Nero, König Ottokar von Böhmen und den falschen Demetrius pgo_450.023
behandelt. Diese großen historischen Trauerspiele sind in der Anlage pgo_450.024
willkürlich und zerfahren; eine reiche und schwelgerische Phantasie überwuchert pgo_450.025
mit üppigen Ranken bis zur Unkenntlichkeit das architektonische pgo_450.026
Grundschema des Drama. Jn den dramatisirten Legenden und Autos pgo_450.027
ist sein allegorischer Scholasticismus oft -- naiv, oft von der wilden pgo_450.028
Grausamkeit des Märtyrerthums durchdrungen. Wir erinnern nur an pgo_450.029
jenen von den Juden zu Tode gemarterten Christenknaben und andere pgo_450.030
dramatisirte Gräuelscenen. Aus diesen wüsten, naturwüchsigen, aber pgo_450.031
genialen Anfängen bildete Calderon de la Barca das Jdeal der pgo_450.032
katholischen Romantik heraus, welches die Glanzepoche des spanischen pgo_450.033
Drama charakterisirt. Ohne die Naivetät, den glücklichen Wurf, pgo_450.034
den schwelgerischen Erfindungsreichthum des Lope de Vega war er ihm pgo_450.035
an künstlerischer Besonnenheit, an Kompositionstalent, an gleichmäßiger

pgo_450.001
blutigen Werkzeuges, eines Malerzeichens, oder ein umherwandelndes pgo_450.002
Gespenst der Vorzeit, eine Ahnfrau, wurden die göttlichen Mächte dieser pgo_450.003
von Platen meisterhaft verspotteten Tragödie, denen die Entsühnung pgo_450.004
eines Oedipus und Orestes gänzlich fehlen mußte. Doch auch abgesehn pgo_450.005
von dieser längst verurtheilten Verkehrtheit wird die Wahl antikmythischer pgo_450.006
Vorwürfe, die in der neuesten Zeit wieder beliebt ist, trotz der Versündigung pgo_450.007
gegen den Geist des Jahrhunderts, von der sie nicht freizusprechen pgo_450.008
ist, unfehlbar in jene Bahnen einer monoton korrekten, leb- und pgo_450.009
geistlosen Form führen, welche die klassische Richtung der französischen pgo_450.010
Bühne vertritt.

pgo_450.011
Die moderne Tragödie, deren antikisirende Formen wir eben in's pgo_450.012
Auge gefaßt, hat außer dem klassischen Theater der Franzosen noch drei pgo_450.013
Höhepunkte ihrer Entwickelung: das altspanische Theater zur Zeit Lope pgo_450.014
de Vega's und Calderon's, das altenglische zur Zeit Shakespeare's und pgo_450.015
das neuere deutsche zur Zeit Schiller's und Goethe's. Die Enge der pgo_450.016
aristotelischen Regeln, an denen noch Cervantes festhielt, wurde schon pgo_450.017
von der Romantik seiner Nachfolger gesprengt. Der geniale Lope pgo_450.018
de Vega, der zahllose Tragödieen mit der Feder improvisirte, wählte mit pgo_450.019
Vorliebe historische Stoffe aus der Geschichte seines Vaterlandes (die pgo_450.020
Juden von Toledo, der letzte Gothe Spaniens, der König Wamba, der pgo_450.021
erste König von Kastilien u. a.), doch hat er auch die Horatier und Kuriatier, pgo_450.022
Kaiser Nero, König Ottokar von Böhmen und den falschen Demetrius pgo_450.023
behandelt. Diese großen historischen Trauerspiele sind in der Anlage pgo_450.024
willkürlich und zerfahren; eine reiche und schwelgerische Phantasie überwuchert pgo_450.025
mit üppigen Ranken bis zur Unkenntlichkeit das architektonische pgo_450.026
Grundschema des Drama. Jn den dramatisirten Legenden und Autos pgo_450.027
ist sein allegorischer Scholasticismus oft — naiv, oft von der wilden pgo_450.028
Grausamkeit des Märtyrerthums durchdrungen. Wir erinnern nur an pgo_450.029
jenen von den Juden zu Tode gemarterten Christenknaben und andere pgo_450.030
dramatisirte Gräuelscenen. Aus diesen wüsten, naturwüchsigen, aber pgo_450.031
genialen Anfängen bildete Calderon de la Barca das Jdeal der pgo_450.032
katholischen Romantik heraus, welches die Glanzepoche des spanischen pgo_450.033
Drama charakterisirt. Ohne die Naivetät, den glücklichen Wurf, pgo_450.034
den schwelgerischen Erfindungsreichthum des Lope de Vega war er ihm pgo_450.035
an künstlerischer Besonnenheit, an Kompositionstalent, an gleichmäßiger

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0472" n="450"/><lb n="pgo_450.001"/>
blutigen Werkzeuges, eines Malerzeichens, oder ein umherwandelndes <lb n="pgo_450.002"/>
Gespenst der Vorzeit, eine Ahnfrau, wurden die göttlichen Mächte dieser <lb n="pgo_450.003"/>
von Platen meisterhaft verspotteten Tragödie, denen die Entsühnung <lb n="pgo_450.004"/>
eines Oedipus und Orestes gänzlich fehlen mußte. Doch auch abgesehn <lb n="pgo_450.005"/>
von dieser längst verurtheilten Verkehrtheit wird die Wahl antikmythischer <lb n="pgo_450.006"/>
Vorwürfe, die in der neuesten Zeit wieder beliebt ist, trotz der Versündigung <lb n="pgo_450.007"/>
gegen den Geist des Jahrhunderts, von der sie nicht freizusprechen <lb n="pgo_450.008"/>
ist, unfehlbar in jene Bahnen einer monoton korrekten, leb- und <lb n="pgo_450.009"/>
geistlosen Form führen, welche die klassische Richtung der französischen <lb n="pgo_450.010"/>
Bühne vertritt.</p>
              <p><lb n="pgo_450.011"/>
Die moderne Tragödie, deren antikisirende Formen wir eben in's <lb n="pgo_450.012"/>
Auge gefaßt, hat außer dem klassischen Theater der Franzosen noch drei <lb n="pgo_450.013"/>
Höhepunkte ihrer Entwickelung: das altspanische Theater zur Zeit Lope <lb n="pgo_450.014"/>
de Vega's und Calderon's, das altenglische zur Zeit Shakespeare's und <lb n="pgo_450.015"/>
das neuere deutsche zur Zeit Schiller's und Goethe's. Die Enge der <lb n="pgo_450.016"/>
aristotelischen Regeln, an denen noch Cervantes festhielt, wurde schon <lb n="pgo_450.017"/>
von der Romantik seiner Nachfolger gesprengt. Der geniale Lope <lb n="pgo_450.018"/>
de Vega, der zahllose Tragödieen mit der Feder improvisirte, wählte mit <lb n="pgo_450.019"/>
Vorliebe historische Stoffe aus der Geschichte seines Vaterlandes (die <lb n="pgo_450.020"/>
Juden von Toledo, der letzte Gothe Spaniens, der König Wamba, der <lb n="pgo_450.021"/>
erste König von Kastilien u. a.), doch hat er auch die Horatier und Kuriatier, <lb n="pgo_450.022"/>
Kaiser Nero, König Ottokar von Böhmen und den falschen Demetrius <lb n="pgo_450.023"/>
behandelt. Diese großen historischen Trauerspiele sind in der Anlage <lb n="pgo_450.024"/>
willkürlich und zerfahren; eine reiche und schwelgerische Phantasie überwuchert <lb n="pgo_450.025"/>
mit üppigen Ranken bis zur Unkenntlichkeit das architektonische <lb n="pgo_450.026"/>
Grundschema des Drama. Jn den dramatisirten Legenden und Autos <lb n="pgo_450.027"/>
ist sein allegorischer Scholasticismus oft &#x2014; naiv, oft von der wilden <lb n="pgo_450.028"/>
Grausamkeit des Märtyrerthums durchdrungen. Wir erinnern nur an <lb n="pgo_450.029"/>
jenen von den Juden zu Tode gemarterten Christenknaben und andere <lb n="pgo_450.030"/>
dramatisirte Gräuelscenen. Aus diesen wüsten, naturwüchsigen, aber <lb n="pgo_450.031"/>
genialen Anfängen bildete <hi rendition="#g">Calderon de la Barca</hi> das Jdeal der <lb n="pgo_450.032"/> <hi rendition="#g">katholischen Romantik</hi> heraus, welches die Glanzepoche des spanischen <lb n="pgo_450.033"/>
Drama charakterisirt. Ohne die Naivetät, den glücklichen Wurf, <lb n="pgo_450.034"/>
den schwelgerischen Erfindungsreichthum des <hi rendition="#g">Lope de Vega</hi> war er ihm <lb n="pgo_450.035"/>
an künstlerischer Besonnenheit, an Kompositionstalent, an gleichmäßiger
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[450/0472] pgo_450.001 blutigen Werkzeuges, eines Malerzeichens, oder ein umherwandelndes pgo_450.002 Gespenst der Vorzeit, eine Ahnfrau, wurden die göttlichen Mächte dieser pgo_450.003 von Platen meisterhaft verspotteten Tragödie, denen die Entsühnung pgo_450.004 eines Oedipus und Orestes gänzlich fehlen mußte. Doch auch abgesehn pgo_450.005 von dieser längst verurtheilten Verkehrtheit wird die Wahl antikmythischer pgo_450.006 Vorwürfe, die in der neuesten Zeit wieder beliebt ist, trotz der Versündigung pgo_450.007 gegen den Geist des Jahrhunderts, von der sie nicht freizusprechen pgo_450.008 ist, unfehlbar in jene Bahnen einer monoton korrekten, leb- und pgo_450.009 geistlosen Form führen, welche die klassische Richtung der französischen pgo_450.010 Bühne vertritt. pgo_450.011 Die moderne Tragödie, deren antikisirende Formen wir eben in's pgo_450.012 Auge gefaßt, hat außer dem klassischen Theater der Franzosen noch drei pgo_450.013 Höhepunkte ihrer Entwickelung: das altspanische Theater zur Zeit Lope pgo_450.014 de Vega's und Calderon's, das altenglische zur Zeit Shakespeare's und pgo_450.015 das neuere deutsche zur Zeit Schiller's und Goethe's. Die Enge der pgo_450.016 aristotelischen Regeln, an denen noch Cervantes festhielt, wurde schon pgo_450.017 von der Romantik seiner Nachfolger gesprengt. Der geniale Lope pgo_450.018 de Vega, der zahllose Tragödieen mit der Feder improvisirte, wählte mit pgo_450.019 Vorliebe historische Stoffe aus der Geschichte seines Vaterlandes (die pgo_450.020 Juden von Toledo, der letzte Gothe Spaniens, der König Wamba, der pgo_450.021 erste König von Kastilien u. a.), doch hat er auch die Horatier und Kuriatier, pgo_450.022 Kaiser Nero, König Ottokar von Böhmen und den falschen Demetrius pgo_450.023 behandelt. Diese großen historischen Trauerspiele sind in der Anlage pgo_450.024 willkürlich und zerfahren; eine reiche und schwelgerische Phantasie überwuchert pgo_450.025 mit üppigen Ranken bis zur Unkenntlichkeit das architektonische pgo_450.026 Grundschema des Drama. Jn den dramatisirten Legenden und Autos pgo_450.027 ist sein allegorischer Scholasticismus oft — naiv, oft von der wilden pgo_450.028 Grausamkeit des Märtyrerthums durchdrungen. Wir erinnern nur an pgo_450.029 jenen von den Juden zu Tode gemarterten Christenknaben und andere pgo_450.030 dramatisirte Gräuelscenen. Aus diesen wüsten, naturwüchsigen, aber pgo_450.031 genialen Anfängen bildete Calderon de la Barca das Jdeal der pgo_450.032 katholischen Romantik heraus, welches die Glanzepoche des spanischen pgo_450.033 Drama charakterisirt. Ohne die Naivetät, den glücklichen Wurf, pgo_450.034 den schwelgerischen Erfindungsreichthum des Lope de Vega war er ihm pgo_450.035 an künstlerischer Besonnenheit, an Kompositionstalent, an gleichmäßiger

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/472
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/472>, abgerufen am 22.11.2024.