Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_438.001
Helden dieser historischen Situationstragödie, welche indeß niemals pgo_438.002
in epische Massentableaus des Völkerkampfes, der großen Hof- und pgo_438.003
Staatsaktionen, der Usurpationen und Revolutionen ausarten darf, sondern pgo_438.004
stets die Menschwerdung des Weltgeistes in einem Einzelnen verlangt. pgo_438.005
Der Konflikt der geschichtlichen Epochen als solcher ist nicht tragisch, sondern pgo_438.006
nur der Einzelne, der in ihm zerschellt. Solche Helden sind Sokrates pgo_438.007
und Mahomet, Arnold von Brescia und Savonarola, Huß und pgo_438.008
Luther, Columbus und Galilei, Julius Cäsar und Cromwell! Die Zeitalter pgo_438.009
der geistigen und politischen Umwälzungen sind überreich an solchen pgo_438.010
Stoffen. Doch liegt bei ihrer Behandlung die Gefahr nahe, der idealen pgo_438.011
Situation das Charakteristische zu opfern, die Helden in das Princip pgo_438.012
zu verflüchtigen, das sie vertreten, eine Gefahr, an welcher mancher pgo_438.013
Arnold von Brescia (z. B. von Niccolini), Savonarola (von Mosen und pgo_438.014
Auffenberg), Columbus (von Werder) gescheitert ist. Die Begeisterung pgo_438.015
für die Jdee kann zu einer salbungsvollen Monotonie der Motivirung pgo_438.016
führen, indem die Jdee selbst undramatisch wie eine Göttin des Euripides pgo_438.017
sich nicht blos in Prologen und Epilogen vordrängt, sondern den pgo_438.018
Helden selbst in ein von ihrer Macht getriebenes Werkzeug verwandelt. pgo_438.019
Die moderne sociale Tragödie hat besonders den Konflikt der Liebe und pgo_438.020
Ehre in den Vordergrund gestellt, der bereits den Mittelpunkt des spanischen pgo_438.021
Drama bildete. Nur galt in diesem die Ehre als eine feststehende, pgo_438.022
bis in's Subtilste ausgebildete Satzung des ritterlichen Codex, eine pgo_438.023
strenge Etikettenform, während sie in neuester Zeit die mannichfachste pgo_438.024
Bedeutung gewonnen hat. Wir finden in unsern Dramen den Kampf pgo_438.025
der Liebe mit der Standesehre (Kabale und Liebe), mit der Karriere im pgo_438.026
Staat und der Gesellschaft (Clavigo), mit der Ehre als einem Vorurtheil pgo_438.027
der sittlichen Meinung (Maria Magdalene, Julie) u. s. f.

pgo_438.028
Die Wirkungen der Tragödie haben seit der Zeit des Aristoteles, pgo_438.029
der sie bekanntlich in eine durch Furcht und Mitleid bewirkte Reinigung pgo_438.030
derartiger Leidenschaften setzt, die Kunstrichter auf's Lebhafteste beschäftigt. pgo_438.031
Die Andeutungen des Stagiriten berühren wenigstens die wesentlichsten pgo_438.032
Gesichtspunkte, wenn sie dieselben auch keineswegs erschöpfen. Jn pgo_438.033
der That gehört die Frage über den Grund unseres Vergnügens an der pgo_438.034
tragischen Kunst zu den interessantesten psychologischen Problemen. Am pgo_438.035
nächsten liegt die Auffassung, daß das Gefühl unserer eigenen Sicherheit

pgo_438.001
Helden dieser historischen Situationstragödie, welche indeß niemals pgo_438.002
in epische Massentableaus des Völkerkampfes, der großen Hof- und pgo_438.003
Staatsaktionen, der Usurpationen und Revolutionen ausarten darf, sondern pgo_438.004
stets die Menschwerdung des Weltgeistes in einem Einzelnen verlangt. pgo_438.005
Der Konflikt der geschichtlichen Epochen als solcher ist nicht tragisch, sondern pgo_438.006
nur der Einzelne, der in ihm zerschellt. Solche Helden sind Sokrates pgo_438.007
und Mahomet, Arnold von Brescia und Savonarola, Huß und pgo_438.008
Luther, Columbus und Galilei, Julius Cäsar und Cromwell! Die Zeitalter pgo_438.009
der geistigen und politischen Umwälzungen sind überreich an solchen pgo_438.010
Stoffen. Doch liegt bei ihrer Behandlung die Gefahr nahe, der idealen pgo_438.011
Situation das Charakteristische zu opfern, die Helden in das Princip pgo_438.012
zu verflüchtigen, das sie vertreten, eine Gefahr, an welcher mancher pgo_438.013
Arnold von Brescia (z. B. von Niccolini), Savonarola (von Mosen und pgo_438.014
Auffenberg), Columbus (von Werder) gescheitert ist. Die Begeisterung pgo_438.015
für die Jdee kann zu einer salbungsvollen Monotonie der Motivirung pgo_438.016
führen, indem die Jdee selbst undramatisch wie eine Göttin des Euripides pgo_438.017
sich nicht blos in Prologen und Epilogen vordrängt, sondern den pgo_438.018
Helden selbst in ein von ihrer Macht getriebenes Werkzeug verwandelt. pgo_438.019
Die moderne sociale Tragödie hat besonders den Konflikt der Liebe und pgo_438.020
Ehre in den Vordergrund gestellt, der bereits den Mittelpunkt des spanischen pgo_438.021
Drama bildete. Nur galt in diesem die Ehre als eine feststehende, pgo_438.022
bis in's Subtilste ausgebildete Satzung des ritterlichen Codex, eine pgo_438.023
strenge Etikettenform, während sie in neuester Zeit die mannichfachste pgo_438.024
Bedeutung gewonnen hat. Wir finden in unsern Dramen den Kampf pgo_438.025
der Liebe mit der Standesehre (Kabale und Liebe), mit der Karriere im pgo_438.026
Staat und der Gesellschaft (Clavigo), mit der Ehre als einem Vorurtheil pgo_438.027
der sittlichen Meinung (Maria Magdalene, Julie) u. s. f.

pgo_438.028
Die Wirkungen der Tragödie haben seit der Zeit des Aristoteles, pgo_438.029
der sie bekanntlich in eine durch Furcht und Mitleid bewirkte Reinigung pgo_438.030
derartiger Leidenschaften setzt, die Kunstrichter auf's Lebhafteste beschäftigt. pgo_438.031
Die Andeutungen des Stagiriten berühren wenigstens die wesentlichsten pgo_438.032
Gesichtspunkte, wenn sie dieselben auch keineswegs erschöpfen. Jn pgo_438.033
der That gehört die Frage über den Grund unseres Vergnügens an der pgo_438.034
tragischen Kunst zu den interessantesten psychologischen Problemen. Am pgo_438.035
nächsten liegt die Auffassung, daß das Gefühl unserer eigenen Sicherheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0460" n="438"/><lb n="pgo_438.001"/>
Helden dieser <hi rendition="#g">historischen Situationstragödie,</hi> welche indeß niemals <lb n="pgo_438.002"/>
in epische Massentableaus des Völkerkampfes, der großen Hof- und <lb n="pgo_438.003"/>
Staatsaktionen, der Usurpationen und Revolutionen ausarten darf, sondern <lb n="pgo_438.004"/>
stets die Menschwerdung des Weltgeistes in einem Einzelnen verlangt. <lb n="pgo_438.005"/>
Der Konflikt der geschichtlichen Epochen als solcher ist nicht tragisch, sondern <lb n="pgo_438.006"/>
nur der Einzelne, der in ihm zerschellt. Solche Helden sind Sokrates <lb n="pgo_438.007"/>
und Mahomet, Arnold von Brescia und Savonarola, Huß und <lb n="pgo_438.008"/>
Luther, Columbus und Galilei, Julius Cäsar und Cromwell! Die Zeitalter <lb n="pgo_438.009"/>
der geistigen und politischen Umwälzungen sind überreich an solchen <lb n="pgo_438.010"/>
Stoffen. Doch liegt bei ihrer Behandlung die Gefahr nahe, der idealen <lb n="pgo_438.011"/>
Situation das Charakteristische zu opfern, die Helden in das Princip <lb n="pgo_438.012"/>
zu verflüchtigen, das sie vertreten, eine Gefahr, an welcher mancher <lb n="pgo_438.013"/>
Arnold von Brescia (z. B. von Niccolini), Savonarola (von Mosen und <lb n="pgo_438.014"/>
Auffenberg), Columbus (von Werder) gescheitert ist. Die Begeisterung <lb n="pgo_438.015"/>
für die Jdee kann zu einer salbungsvollen Monotonie der Motivirung <lb n="pgo_438.016"/>
führen, indem die Jdee selbst undramatisch wie eine Göttin des Euripides <lb n="pgo_438.017"/>
sich nicht blos in Prologen und Epilogen vordrängt, sondern den <lb n="pgo_438.018"/>
Helden selbst in ein von ihrer Macht getriebenes Werkzeug verwandelt. <lb n="pgo_438.019"/>
Die moderne sociale Tragödie hat besonders den Konflikt der Liebe und <lb n="pgo_438.020"/>
Ehre in den Vordergrund gestellt, der bereits den Mittelpunkt des spanischen <lb n="pgo_438.021"/>
Drama bildete. Nur galt in diesem die Ehre als eine feststehende, <lb n="pgo_438.022"/>
bis in's Subtilste ausgebildete Satzung des ritterlichen Codex, eine <lb n="pgo_438.023"/>
strenge Etikettenform, während sie in neuester Zeit die mannichfachste <lb n="pgo_438.024"/>
Bedeutung gewonnen hat. Wir finden in unsern Dramen den Kampf <lb n="pgo_438.025"/>
der Liebe mit der Standesehre (Kabale und Liebe), mit der Karriere im <lb n="pgo_438.026"/>
Staat und der Gesellschaft (Clavigo), mit der Ehre als einem Vorurtheil <lb n="pgo_438.027"/>
der sittlichen Meinung (Maria Magdalene, Julie) u. s. f.</p>
              <p><lb n="pgo_438.028"/>
Die <hi rendition="#g">Wirkungen</hi> der Tragödie haben seit der Zeit des Aristoteles, <lb n="pgo_438.029"/>
der sie bekanntlich in eine durch Furcht und Mitleid bewirkte Reinigung <lb n="pgo_438.030"/>
derartiger Leidenschaften setzt, die Kunstrichter auf's Lebhafteste beschäftigt. <lb n="pgo_438.031"/>
Die Andeutungen des Stagiriten berühren wenigstens die wesentlichsten <lb n="pgo_438.032"/>
Gesichtspunkte, wenn sie dieselben auch keineswegs erschöpfen. Jn <lb n="pgo_438.033"/>
der That gehört die Frage über den Grund unseres Vergnügens an der <lb n="pgo_438.034"/>
tragischen Kunst zu den interessantesten psychologischen Problemen. Am <lb n="pgo_438.035"/>
nächsten liegt die Auffassung, daß das Gefühl unserer eigenen Sicherheit
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[438/0460] pgo_438.001 Helden dieser historischen Situationstragödie, welche indeß niemals pgo_438.002 in epische Massentableaus des Völkerkampfes, der großen Hof- und pgo_438.003 Staatsaktionen, der Usurpationen und Revolutionen ausarten darf, sondern pgo_438.004 stets die Menschwerdung des Weltgeistes in einem Einzelnen verlangt. pgo_438.005 Der Konflikt der geschichtlichen Epochen als solcher ist nicht tragisch, sondern pgo_438.006 nur der Einzelne, der in ihm zerschellt. Solche Helden sind Sokrates pgo_438.007 und Mahomet, Arnold von Brescia und Savonarola, Huß und pgo_438.008 Luther, Columbus und Galilei, Julius Cäsar und Cromwell! Die Zeitalter pgo_438.009 der geistigen und politischen Umwälzungen sind überreich an solchen pgo_438.010 Stoffen. Doch liegt bei ihrer Behandlung die Gefahr nahe, der idealen pgo_438.011 Situation das Charakteristische zu opfern, die Helden in das Princip pgo_438.012 zu verflüchtigen, das sie vertreten, eine Gefahr, an welcher mancher pgo_438.013 Arnold von Brescia (z. B. von Niccolini), Savonarola (von Mosen und pgo_438.014 Auffenberg), Columbus (von Werder) gescheitert ist. Die Begeisterung pgo_438.015 für die Jdee kann zu einer salbungsvollen Monotonie der Motivirung pgo_438.016 führen, indem die Jdee selbst undramatisch wie eine Göttin des Euripides pgo_438.017 sich nicht blos in Prologen und Epilogen vordrängt, sondern den pgo_438.018 Helden selbst in ein von ihrer Macht getriebenes Werkzeug verwandelt. pgo_438.019 Die moderne sociale Tragödie hat besonders den Konflikt der Liebe und pgo_438.020 Ehre in den Vordergrund gestellt, der bereits den Mittelpunkt des spanischen pgo_438.021 Drama bildete. Nur galt in diesem die Ehre als eine feststehende, pgo_438.022 bis in's Subtilste ausgebildete Satzung des ritterlichen Codex, eine pgo_438.023 strenge Etikettenform, während sie in neuester Zeit die mannichfachste pgo_438.024 Bedeutung gewonnen hat. Wir finden in unsern Dramen den Kampf pgo_438.025 der Liebe mit der Standesehre (Kabale und Liebe), mit der Karriere im pgo_438.026 Staat und der Gesellschaft (Clavigo), mit der Ehre als einem Vorurtheil pgo_438.027 der sittlichen Meinung (Maria Magdalene, Julie) u. s. f. pgo_438.028 Die Wirkungen der Tragödie haben seit der Zeit des Aristoteles, pgo_438.029 der sie bekanntlich in eine durch Furcht und Mitleid bewirkte Reinigung pgo_438.030 derartiger Leidenschaften setzt, die Kunstrichter auf's Lebhafteste beschäftigt. pgo_438.031 Die Andeutungen des Stagiriten berühren wenigstens die wesentlichsten pgo_438.032 Gesichtspunkte, wenn sie dieselben auch keineswegs erschöpfen. Jn pgo_438.033 der That gehört die Frage über den Grund unseres Vergnügens an der pgo_438.034 tragischen Kunst zu den interessantesten psychologischen Problemen. Am pgo_438.035 nächsten liegt die Auffassung, daß das Gefühl unserer eigenen Sicherheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/460
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/460>, abgerufen am 22.11.2024.