pgo_423.001 Figuren dieses Spieles; ihre Bewegung geht nothwendig aus dem pgo_423.002 Wesen ihres Charakters hervor, wie die Bewegung eines Thurms, pgo_423.003 Springers, Läufers. Der dramatische Charakter kann ebensowenig pgo_423.004 seinem Wesen untren werden, wie ein Thurm oder Läufer von ihrer Linie pgo_423.005 abgehn und in die hüpfenden Touren des Rösselsprunges verfallen dürfen. pgo_423.006 Die Beschränkung auf eine bestimmte Zahl zur Entscheidung pgo_423.007 nothwendiger Figuren mag der Dramatiker ebenfalls vom Schachspiele pgo_423.008 lernen; ebenso die Beschränkung auf einen bestimmten Zweck, pgo_423.009 zu welchem alle Figuren gemeinsam wirken! Der König soll matt pgo_423.010 gesetzt werden. Das ist der einzige und letzte Zweck des Schachs! pgo_423.011 Ein gleiches "Matt" ihres Helden verlangt die Tragödie, während pgo_423.012 sich das Lustspiel mit einem Patt begnügt. Vom Drama, wie pgo_423.013 vom Schachspiel gilt, daß jeder einzelne Zug dies letzte Ziel im Auge pgo_423.014 habe. Das ist die Einheit des Spieles und die Einheit des Drama, pgo_423.015 der geniale Durchblick nach dem letzten Endzweck, ohne den es keinen pgo_423.016 großen Dramatiker und keinen großen Schachspieler giebt. Minder pgo_423.017 Begabte verstricken sich in nebensächliche Verwickelungen und verlieren das pgo_423.018 letzte Ziel aus dem Auge. Mit den bestimmten Figuren des Schachs ist pgo_423.019 nun eine große Menge von Kombinationen und Variationen möglich; pgo_423.020 ähnlich mit den Gestalten des Drama. Entscheidend aber ist im Schach pgo_423.021 die kürzeste und schlagendste Kombination, die am raschesten zum pgo_423.022 Ziele führt! Und wie der geniale Schachspieler durch wohlberechnete und pgo_423.023 überraschende Opfer den Sieg davonträgt; so siegt der geniale Dramatiter pgo_423.024 durch blendende Züge, die aber nur die innere Nothwendigkeit der pgo_423.025 Sache, die dem blöderen Aug' anfangs versteckt ist, in überraschender pgo_423.026 Weise aufdecken. Manche Variationen sind im Drama, wie im Schach pgo_423.027 gleichgültig, indem sie in einer gleichen Zahl von Zügen zum Ziele pgo_423.028 führen. Dagegen ist jede noch so glänzende Diversion verwerflich, wenn pgo_423.029 sie das letzte Resultat aus dem Auge verliert. Unnöthiges Schlagen und pgo_423.030 Abtauschen, das durchaus keinen Vortheil bringt, ist im Schach tadelnswerth; pgo_423.031 im Drama das Hinopfern der Figuren, wenn es ohne Einfluß pgo_423.032 auf den Fortgang der Handlung bleibt.
pgo_423.033 Diese Vergleichung mag Manchem müßig erscheinen; und doch erläutert pgo_423.034 sie das Wesen der dramatischen Technik besser, als eine selbstständige pgo_423.035 Abhandlung. Ja eins ihrer Hauptgeheimnisse, welches wir als das
pgo_423.001 Figuren dieses Spieles; ihre Bewegung geht nothwendig aus dem pgo_423.002 Wesen ihres Charakters hervor, wie die Bewegung eines Thurms, pgo_423.003 Springers, Läufers. Der dramatische Charakter kann ebensowenig pgo_423.004 seinem Wesen untren werden, wie ein Thurm oder Läufer von ihrer Linie pgo_423.005 abgehn und in die hüpfenden Touren des Rösselsprunges verfallen dürfen. pgo_423.006 Die Beschränkung auf eine bestimmte Zahl zur Entscheidung pgo_423.007 nothwendiger Figuren mag der Dramatiker ebenfalls vom Schachspiele pgo_423.008 lernen; ebenso die Beschränkung auf einen bestimmten Zweck, pgo_423.009 zu welchem alle Figuren gemeinsam wirken! Der König soll matt pgo_423.010 gesetzt werden. Das ist der einzige und letzte Zweck des Schachs! pgo_423.011 Ein gleiches „Matt“ ihres Helden verlangt die Tragödie, während pgo_423.012 sich das Lustspiel mit einem Patt begnügt. Vom Drama, wie pgo_423.013 vom Schachspiel gilt, daß jeder einzelne Zug dies letzte Ziel im Auge pgo_423.014 habe. Das ist die Einheit des Spieles und die Einheit des Drama, pgo_423.015 der geniale Durchblick nach dem letzten Endzweck, ohne den es keinen pgo_423.016 großen Dramatiker und keinen großen Schachspieler giebt. Minder pgo_423.017 Begabte verstricken sich in nebensächliche Verwickelungen und verlieren das pgo_423.018 letzte Ziel aus dem Auge. Mit den bestimmten Figuren des Schachs ist pgo_423.019 nun eine große Menge von Kombinationen und Variationen möglich; pgo_423.020 ähnlich mit den Gestalten des Drama. Entscheidend aber ist im Schach pgo_423.021 die kürzeste und schlagendste Kombination, die am raschesten zum pgo_423.022 Ziele führt! Und wie der geniale Schachspieler durch wohlberechnete und pgo_423.023 überraschende Opfer den Sieg davonträgt; so siegt der geniale Dramatiter pgo_423.024 durch blendende Züge, die aber nur die innere Nothwendigkeit der pgo_423.025 Sache, die dem blöderen Aug' anfangs versteckt ist, in überraschender pgo_423.026 Weise aufdecken. Manche Variationen sind im Drama, wie im Schach pgo_423.027 gleichgültig, indem sie in einer gleichen Zahl von Zügen zum Ziele pgo_423.028 führen. Dagegen ist jede noch so glänzende Diversion verwerflich, wenn pgo_423.029 sie das letzte Resultat aus dem Auge verliert. Unnöthiges Schlagen und pgo_423.030 Abtauschen, das durchaus keinen Vortheil bringt, ist im Schach tadelnswerth; pgo_423.031 im Drama das Hinopfern der Figuren, wenn es ohne Einfluß pgo_423.032 auf den Fortgang der Handlung bleibt.
pgo_423.033 Diese Vergleichung mag Manchem müßig erscheinen; und doch erläutert pgo_423.034 sie das Wesen der dramatischen Technik besser, als eine selbstständige pgo_423.035 Abhandlung. Ja eins ihrer Hauptgeheimnisse, welches wir als das
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Figuren dieses Spieles; ihre Bewegung geht nothwendig aus dem pgo_423.002
Wesen ihres Charakters hervor, wie die Bewegung eines Thurms, pgo_423.003
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nothwendiger Figuren mag der Dramatiker ebenfalls vom Schachspiele pgo_423.008
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nun eine große Menge von Kombinationen und Variationen möglich; pgo_423.020
ähnlich mit den Gestalten des Drama. Entscheidend aber ist im Schach pgo_423.021
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/445>, abgerufen am 25.11.2024.
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