pgo_421.001 organische Bildung des Kunstwerkes und die Zwecke des Dramatikers. pgo_421.002 Während unsere Aesthetiker die Technik des altgriechischen und altenglischen pgo_421.003 Theaters, welche auf die Gestaltung des volksthümlichen Drama pgo_421.004 jener Zeit vom allerentschiedensten Einfluß war, mit großer Ausführlichkeit pgo_421.005 behandeln, halten sie es für überflüssig, die Regeln der dramatischen pgo_421.006 Dichtkunst mit Bezug auf die Anforderungen der heutigen Bühne zu entwerfen. pgo_421.007 Und doch sind die Tabulaturen der dramatischen Technik für pgo_421.008 das Drama von nicht geringerer Wichtigkeit, als seine ästhetischen pgo_421.009 Grundgesetze. Wie jede Dichtung hat das Drama nur dann eine pgo_421.010 Zukunft, wenn es sich einmal einer lebensvollen Gegenwart erfreut hat. pgo_421.011 Diese lebensvolle Gegenwart erringt es nur, indem es die Bühne pgo_421.012 beherrscht -- die Herrschaft über die Bühne aber ist abhängig sowohl pgo_421.013 von seinem innern Zusammenhalt, seiner wirkungsvollen Energie, als pgo_421.014 auch von seiner Angemessenheit zu den Einrichtungen des Theaters in pgo_421.015 einer bestimmten Epoche. Man wird diesen Ausspruch alsbald mit dem pgo_421.016 beliebten Gemeinplatz verdammen, daß das dramatische Genie über pgo_421.017 solche scenische Anforderungen erhaben sei, daß es sich selbst seine ideale pgo_421.018 Bühne schaffe und auch nach dieser Seite hin reformatorisch auftrete. pgo_421.019 Die Geschichte beweist indeß, daß diese Tröstungen unserer verkannten pgo_421.020 dramatischen Genies jedes thatsächlichen Grundes entbehren. Ein recht pgo_421.021 schlagendes Beispiel dafür bietet uns die Geschichte der englischen Literatur. pgo_421.022 Jhr größter Genius, Shakespeare, war weit davon entfernt, von pgo_421.023 den Bedingungen seines Theaters abzusehn. Er acceptirte sie ohne pgo_421.024 jeden Vorbehalt; er trat ganz in die Fußstapfen seiner Vorgänger; er pgo_421.025 huldigte in allen Aeußerlichkeiten dem Zeitgeschmacke; doch selbst die pgo_421.026 Flecken und Schattenseiten, die ihm das Bürgerrecht auf der damaligen pgo_421.027 Bühne erringen halfen, vermochten seinen Ruhm bei der Nachwelt nicht pgo_421.028 zu verdunkeln. Man vergleiche nun mit Shakespeare den reformatorischen pgo_421.029 John Dryden, den Schöpfer der neuern englischen Bühne pgo_421.030 nach der Restauration, der die französischen Muster eines Racine, Corneille pgo_421.031 und den Boileau'schen Codex der aristotelischen Einheiten mit dem pgo_421.032 freieren Schwung der englischen Dramatik zu versöhnen suchte, der als pgo_421.033 scenischer Gesetzgeber dem englischen Theater seine noch heute gültigen pgo_421.034 Jnstitutionen gab. Sein Don Sebastian, Aurong Zeb, Troilus und pgo_421.035 Cressida sind längst vergessen. Wir sehn hieraus, daß ein großes Genie
pgo_421.001 organische Bildung des Kunstwerkes und die Zwecke des Dramatikers. pgo_421.002 Während unsere Aesthetiker die Technik des altgriechischen und altenglischen pgo_421.003 Theaters, welche auf die Gestaltung des volksthümlichen Drama pgo_421.004 jener Zeit vom allerentschiedensten Einfluß war, mit großer Ausführlichkeit pgo_421.005 behandeln, halten sie es für überflüssig, die Regeln der dramatischen pgo_421.006 Dichtkunst mit Bezug auf die Anforderungen der heutigen Bühne zu entwerfen. pgo_421.007 Und doch sind die Tabulaturen der dramatischen Technik für pgo_421.008 das Drama von nicht geringerer Wichtigkeit, als seine ästhetischen pgo_421.009 Grundgesetze. Wie jede Dichtung hat das Drama nur dann eine pgo_421.010 Zukunft, wenn es sich einmal einer lebensvollen Gegenwart erfreut hat. pgo_421.011 Diese lebensvolle Gegenwart erringt es nur, indem es die Bühne pgo_421.012 beherrscht — die Herrschaft über die Bühne aber ist abhängig sowohl pgo_421.013 von seinem innern Zusammenhalt, seiner wirkungsvollen Energie, als pgo_421.014 auch von seiner Angemessenheit zu den Einrichtungen des Theaters in pgo_421.015 einer bestimmten Epoche. Man wird diesen Ausspruch alsbald mit dem pgo_421.016 beliebten Gemeinplatz verdammen, daß das dramatische Genie über pgo_421.017 solche scenische Anforderungen erhaben sei, daß es sich selbst seine ideale pgo_421.018 Bühne schaffe und auch nach dieser Seite hin reformatorisch auftrete. pgo_421.019 Die Geschichte beweist indeß, daß diese Tröstungen unserer verkannten pgo_421.020 dramatischen Genies jedes thatsächlichen Grundes entbehren. Ein recht pgo_421.021 schlagendes Beispiel dafür bietet uns die Geschichte der englischen Literatur. pgo_421.022 Jhr größter Genius, Shakespeare, war weit davon entfernt, von pgo_421.023 den Bedingungen seines Theaters abzusehn. Er acceptirte sie ohne pgo_421.024 jeden Vorbehalt; er trat ganz in die Fußstapfen seiner Vorgänger; er pgo_421.025 huldigte in allen Aeußerlichkeiten dem Zeitgeschmacke; doch selbst die pgo_421.026 Flecken und Schattenseiten, die ihm das Bürgerrecht auf der damaligen pgo_421.027 Bühne erringen halfen, vermochten seinen Ruhm bei der Nachwelt nicht pgo_421.028 zu verdunkeln. Man vergleiche nun mit Shakespeare den reformatorischen pgo_421.029 John Dryden, den Schöpfer der neuern englischen Bühne pgo_421.030 nach der Restauration, der die französischen Muster eines Racine, Corneille pgo_421.031 und den Boileau'schen Codex der aristotelischen Einheiten mit dem pgo_421.032 freieren Schwung der englischen Dramatik zu versöhnen suchte, der als pgo_421.033 scenischer Gesetzgeber dem englischen Theater seine noch heute gültigen pgo_421.034 Jnstitutionen gab. Sein Don Sebastian, Aurong Zeb, Troilus und pgo_421.035 Cressida sind längst vergessen. Wir sehn hieraus, daß ein großes Genie
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/443>, abgerufen am 25.11.2024.
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