pgo_416.001 Sir Philipp Sidney sagt in seiner "Vertheidigung der Poesie" in pgo_416.002 Bezug auf die Bühne Shakespeare's: "Jhr habt Asien auf der einen, pgo_416.003 Afrika auf der andern Seite und soviele Reiche dazwischen, daß der pgo_416.004 Schauspieler, wenn er auftritt, immer erst sagen muß, wo er sich befindet, pgo_416.005 damit er nur verstanden werde. Da treten plötzlich drei Damen pgo_416.006 auf und sammeln Blumen, und wir müssen annehmen, daß die Bühne pgo_416.007 ein Garten sei -- dann ist von einem Schiffbruch die Rede, und die pgo_416.008 Bühne muß uns als ein Felsen erscheinen. Auf diesem zeigt sich ein häßliches, pgo_416.009 feuerschnaubendes Ungeheuer -- dann müssen die bedauernswerthen pgo_416.010 Zuschauer die Scene für eine Höhle halten, während zwei pgo_416.011 Armeen, von vier Schwertern und Schilden dargestellt, hereinstürmen pgo_416.012 -- wer würde sich da nicht erbitten lassen, in der Bühne ein Schlachtfeld pgo_416.013 zu erblicken? Jn der Zeit ist man noch weniger ängstlich, denn gewöhnlich pgo_416.014 verlieben sich ein Prinz und eine Prinzessin ineinander, nach vielen pgo_416.015 Zwischenfällen genest sie eines Knaben, eines schönen Buben; er geht verloren, pgo_416.016 wird ein Mann, verliebt sich und zeigt sich bereit, selbst Kinder zu pgo_416.017 bekommen, und das alles in einem Zeitraum von zwei Stunden." Wir pgo_416.018 sehn, daß schon die Romantik des alten Englands ihren Platen fand; pgo_416.019 und wenn auch die von Sidney gerügte Unklarheit der englischen Bühne pgo_416.020 durch die Dekorationen unseres Theaters beseitigt ist, so bleibt doch sein pgo_416.021 Tadel für den stürmischen Scenenwechsel der Stürmer und Dränger und pgo_416.022 der Romantiker, eines Tieck, Jmmermann und ihrer Nachbeter zu Recht pgo_416.023 bestehn, um so mehr, als auch die größere Hälfte der Shakespeare'schen pgo_416.024 Stücke durch ihre scenische Zerfahrenheit ihre übrigen Vorzüge wesentlich pgo_416.025 beeinträchtigt. Die altenglische Tragödie macht den Eindruck eines pgo_416.026 Urwaldes, der erst durch Lichtung für den guten Geschmack zugänglich pgo_416.027 wird. Das Hin- und Herfahren der Shakespearomanie auf der einen, pgo_416.028 die gezwungenen Einheitskünsteleien auf der andern Seite haben dem pgo_416.029 modernen Drama in seiner Entwickelung sehr geschadet. Wir glauben pgo_416.030 als Prinzip feststellen zu dürfen: die Einheit von Ort und Zeit muß pgo_416.031 insoweit beobachtet werden, als es die Einheit der Handlung verlangt. pgo_416.032 Verwandlung der Scene findet nach jedem Akte, der zugleich ein nothwendiger pgo_416.033 Einschnitt der Handlung ist, Statt. Jnnerhalb des Aktes dürfen pgo_416.034 die Verwandlungen höchstens zweimal stattfinden, weil ein öfterer pgo_416.035 Scenenwechsel die Stimmung nothwendig unterbricht. Aus dem gleichen
pgo_416.001 Sir Philipp Sidney sagt in seiner „Vertheidigung der Poesie“ in pgo_416.002 Bezug auf die Bühne Shakespeare's: „Jhr habt Asien auf der einen, pgo_416.003 Afrika auf der andern Seite und soviele Reiche dazwischen, daß der pgo_416.004 Schauspieler, wenn er auftritt, immer erst sagen muß, wo er sich befindet, pgo_416.005 damit er nur verstanden werde. Da treten plötzlich drei Damen pgo_416.006 auf und sammeln Blumen, und wir müssen annehmen, daß die Bühne pgo_416.007 ein Garten sei — dann ist von einem Schiffbruch die Rede, und die pgo_416.008 Bühne muß uns als ein Felsen erscheinen. Auf diesem zeigt sich ein häßliches, pgo_416.009 feuerschnaubendes Ungeheuer — dann müssen die bedauernswerthen pgo_416.010 Zuschauer die Scene für eine Höhle halten, während zwei pgo_416.011 Armeen, von vier Schwertern und Schilden dargestellt, hereinstürmen pgo_416.012 — wer würde sich da nicht erbitten lassen, in der Bühne ein Schlachtfeld pgo_416.013 zu erblicken? Jn der Zeit ist man noch weniger ängstlich, denn gewöhnlich pgo_416.014 verlieben sich ein Prinz und eine Prinzessin ineinander, nach vielen pgo_416.015 Zwischenfällen genest sie eines Knaben, eines schönen Buben; er geht verloren, pgo_416.016 wird ein Mann, verliebt sich und zeigt sich bereit, selbst Kinder zu pgo_416.017 bekommen, und das alles in einem Zeitraum von zwei Stunden.“ Wir pgo_416.018 sehn, daß schon die Romantik des alten Englands ihren Platen fand; pgo_416.019 und wenn auch die von Sidney gerügte Unklarheit der englischen Bühne pgo_416.020 durch die Dekorationen unseres Theaters beseitigt ist, so bleibt doch sein pgo_416.021 Tadel für den stürmischen Scenenwechsel der Stürmer und Dränger und pgo_416.022 der Romantiker, eines Tieck, Jmmermann und ihrer Nachbeter zu Recht pgo_416.023 bestehn, um so mehr, als auch die größere Hälfte der Shakespeare'schen pgo_416.024 Stücke durch ihre scenische Zerfahrenheit ihre übrigen Vorzüge wesentlich pgo_416.025 beeinträchtigt. Die altenglische Tragödie macht den Eindruck eines pgo_416.026 Urwaldes, der erst durch Lichtung für den guten Geschmack zugänglich pgo_416.027 wird. Das Hin- und Herfahren der Shakespearomanie auf der einen, pgo_416.028 die gezwungenen Einheitskünsteleien auf der andern Seite haben dem pgo_416.029 modernen Drama in seiner Entwickelung sehr geschadet. Wir glauben pgo_416.030 als Prinzip feststellen zu dürfen: die Einheit von Ort und Zeit muß pgo_416.031 insoweit beobachtet werden, als es die Einheit der Handlung verlangt. pgo_416.032 Verwandlung der Scene findet nach jedem Akte, der zugleich ein nothwendiger pgo_416.033 Einschnitt der Handlung ist, Statt. Jnnerhalb des Aktes dürfen pgo_416.034 die Verwandlungen höchstens zweimal stattfinden, weil ein öfterer pgo_416.035 Scenenwechsel die Stimmung nothwendig unterbricht. Aus dem gleichen
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/438>, abgerufen am 22.11.2024.
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