Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite
pgo_021.001
Erstes Hauptstück.
pgo_021.002
Die Poesie im System der Künste.


pgo_021.003
Erster Abschnitt.
pgo_021.004
Das Schöne und die Kunst.

pgo_021.005
Der Verstand, der die Welt der Erscheinung in ihrem Zusammenhang pgo_021.006
zu erkennen sucht, sieht sich alsbald in die unendliche Kette von Ursache pgo_021.007
und Wirkung verstrickt. Jede Ursache hat eine Wirkung und ist selbst die pgo_021.008
Wirkung einer vorausgehenden Ursache. Der Verstand kann seine Untersuchungen pgo_021.009
nur willkürlich abbrechen oder beschränken, wenn er, an dieser pgo_021.010
Kette fortlaufend, zur Ruhe kommen will. Ebenso unbefriedigend sind die pgo_021.011
rastlosen Strebungen des Willens, welcher die Welt sich anzueignen sucht:

pgo_021.012
Jn der Begierde such' ich nach Genuß pgo_021.013
Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.

pgo_021.014
Unerfüllt bleibt die Mehrzahl der Wünsche, welche das Herz bewegen; pgo_021.015
der erfüllte Wunsch zeigt sich oft der Erfüllung unwerth, und der erreichte pgo_021.016
Zweck weist über sich selbst nach einem andern fernern Ziele hinaus. Nur pgo_021.017
wenn wir uns von jener Erkenntnißweise, von dieser blinden Macht der pgo_021.018
Triebe losreißen, nur wenn wir die Dinge unabhängig von unserm Wollen pgo_021.019
und von ihrem Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, öffnet pgo_021.020
sich uns die reine Welt der Jdeeen, in der wir das einzelne Object in pgo_021.021
seiner ewigen Bedeutung erfassen und ebenso selbst als einzelnes Subject pgo_021.022
mit den Augen des ewigen Geistes sehn. Diese Anschauungsweise nennt pgo_021.023
Plato Enthusiasmus, Spinoza ein Sehen sub specie aeternitatis, pgo_021.024
Schelling intellectuelle Anschauung, Schopenhauer die Betrachtungsart pgo_021.025
der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes; es ist die pgo_021.026
Anschauung des Denkers, der das ewige Gesetz in der Erscheinung findet, pgo_021.027
die Anschauung des Künstlers, der in der Sinnenwelt die göttliche Jdee

pgo_021.001
Erstes Hauptstück.
pgo_021.002
Die Poesie im System der Künste.


pgo_021.003
Erster Abschnitt.
pgo_021.004
Das Schöne und die Kunst.

pgo_021.005
Der Verstand, der die Welt der Erscheinung in ihrem Zusammenhang pgo_021.006
zu erkennen sucht, sieht sich alsbald in die unendliche Kette von Ursache pgo_021.007
und Wirkung verstrickt. Jede Ursache hat eine Wirkung und ist selbst die pgo_021.008
Wirkung einer vorausgehenden Ursache. Der Verstand kann seine Untersuchungen pgo_021.009
nur willkürlich abbrechen oder beschränken, wenn er, an dieser pgo_021.010
Kette fortlaufend, zur Ruhe kommen will. Ebenso unbefriedigend sind die pgo_021.011
rastlosen Strebungen des Willens, welcher die Welt sich anzueignen sucht:

pgo_021.012
Jn der Begierde such' ich nach Genuß pgo_021.013
Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.

pgo_021.014
Unerfüllt bleibt die Mehrzahl der Wünsche, welche das Herz bewegen; pgo_021.015
der erfüllte Wunsch zeigt sich oft der Erfüllung unwerth, und der erreichte pgo_021.016
Zweck weist über sich selbst nach einem andern fernern Ziele hinaus. Nur pgo_021.017
wenn wir uns von jener Erkenntnißweise, von dieser blinden Macht der pgo_021.018
Triebe losreißen, nur wenn wir die Dinge unabhängig von unserm Wollen pgo_021.019
und von ihrem Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, öffnet pgo_021.020
sich uns die reine Welt der Jdeeen, in der wir das einzelne Object in pgo_021.021
seiner ewigen Bedeutung erfassen und ebenso selbst als einzelnes Subject pgo_021.022
mit den Augen des ewigen Geistes sehn. Diese Anschauungsweise nennt pgo_021.023
Plato Enthusiasmus, Spinoza ein Sehen sub specie aeternitatis, pgo_021.024
Schelling intellectuelle Anschauung, Schopenhauer die Betrachtungsart pgo_021.025
der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes; es ist die pgo_021.026
Anschauung des Denkers, der das ewige Gesetz in der Erscheinung findet, pgo_021.027
die Anschauung des Künstlers, der in der Sinnenwelt die göttliche Jdee

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0043" n="E21"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#c"><lb n="pgo_021.001"/>
Erstes Hauptstück.</hi> </head>
            <lb n="pgo_021.002"/>
            <head> <hi rendition="#c">Die Poesie im System der Künste. </hi> </head><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <div n="4">
              <lb n="pgo_021.003"/>
              <head> <hi rendition="#c">Erster Abschnitt.</hi> </head>
              <lb n="pgo_021.004"/>
              <head> <hi rendition="#c">Das Schöne und die Kunst.</hi> </head>
              <p><lb n="pgo_021.005"/>
Der Verstand, der die Welt der Erscheinung in ihrem Zusammenhang <lb n="pgo_021.006"/>
zu erkennen sucht, sieht sich alsbald in die unendliche Kette von Ursache <lb n="pgo_021.007"/>
und Wirkung verstrickt. Jede Ursache <hi rendition="#g">hat</hi> eine Wirkung und <hi rendition="#g">ist</hi> selbst die <lb n="pgo_021.008"/>
Wirkung einer vorausgehenden Ursache. Der Verstand kann seine Untersuchungen <lb n="pgo_021.009"/>
nur willkürlich abbrechen oder beschränken, wenn er, an dieser <lb n="pgo_021.010"/>
Kette fortlaufend, zur Ruhe kommen will. Ebenso unbefriedigend sind die <lb n="pgo_021.011"/>
rastlosen Strebungen des Willens, welcher die Welt sich anzueignen sucht:</p>
              <lb n="pgo_021.012"/>
              <lg>
                <l>Jn der Begierde such' ich nach Genuß</l>
                <lb n="pgo_021.013"/>
                <l>Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde.</l>
              </lg>
              <p><lb n="pgo_021.014"/>
Unerfüllt bleibt die Mehrzahl der Wünsche, welche das Herz bewegen; <lb n="pgo_021.015"/>
der erfüllte Wunsch zeigt sich oft der Erfüllung unwerth, und der erreichte <lb n="pgo_021.016"/>
Zweck weist über sich selbst nach einem andern fernern Ziele hinaus. Nur <lb n="pgo_021.017"/>
wenn wir uns von jener Erkenntnißweise, von dieser blinden Macht der <lb n="pgo_021.018"/>
Triebe losreißen, nur wenn wir die Dinge unabhängig von unserm Wollen <lb n="pgo_021.019"/>
und von ihrem Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, öffnet <lb n="pgo_021.020"/>
sich uns die reine Welt der <hi rendition="#g">Jdeeen,</hi> in der wir das einzelne Object in <lb n="pgo_021.021"/>
seiner ewigen Bedeutung erfassen und ebenso selbst als einzelnes Subject <lb n="pgo_021.022"/>
mit den Augen des ewigen Geistes sehn. Diese Anschauungsweise nennt <lb n="pgo_021.023"/> <hi rendition="#g">Plato</hi> Enthusiasmus, <hi rendition="#g">Spinoza</hi> ein Sehen <foreign xml:lang="lat">sub specie aeternitatis</foreign>, <lb n="pgo_021.024"/> <hi rendition="#g">Schelling</hi> intellectuelle Anschauung, <hi rendition="#g">Schopenhauer</hi> die Betrachtungsart <lb n="pgo_021.025"/>
der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes; es ist die <lb n="pgo_021.026"/>
Anschauung des Denkers, der das ewige Gesetz in der Erscheinung findet, <lb n="pgo_021.027"/>
die Anschauung des Künstlers, der in der Sinnenwelt die göttliche Jdee
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[E21/0043] pgo_021.001 Erstes Hauptstück. pgo_021.002 Die Poesie im System der Künste. pgo_021.003 Erster Abschnitt. pgo_021.004 Das Schöne und die Kunst. pgo_021.005 Der Verstand, der die Welt der Erscheinung in ihrem Zusammenhang pgo_021.006 zu erkennen sucht, sieht sich alsbald in die unendliche Kette von Ursache pgo_021.007 und Wirkung verstrickt. Jede Ursache hat eine Wirkung und ist selbst die pgo_021.008 Wirkung einer vorausgehenden Ursache. Der Verstand kann seine Untersuchungen pgo_021.009 nur willkürlich abbrechen oder beschränken, wenn er, an dieser pgo_021.010 Kette fortlaufend, zur Ruhe kommen will. Ebenso unbefriedigend sind die pgo_021.011 rastlosen Strebungen des Willens, welcher die Welt sich anzueignen sucht: pgo_021.012 Jn der Begierde such' ich nach Genuß pgo_021.013 Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde. pgo_021.014 Unerfüllt bleibt die Mehrzahl der Wünsche, welche das Herz bewegen; pgo_021.015 der erfüllte Wunsch zeigt sich oft der Erfüllung unwerth, und der erreichte pgo_021.016 Zweck weist über sich selbst nach einem andern fernern Ziele hinaus. Nur pgo_021.017 wenn wir uns von jener Erkenntnißweise, von dieser blinden Macht der pgo_021.018 Triebe losreißen, nur wenn wir die Dinge unabhängig von unserm Wollen pgo_021.019 und von ihrem Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, öffnet pgo_021.020 sich uns die reine Welt der Jdeeen, in der wir das einzelne Object in pgo_021.021 seiner ewigen Bedeutung erfassen und ebenso selbst als einzelnes Subject pgo_021.022 mit den Augen des ewigen Geistes sehn. Diese Anschauungsweise nennt pgo_021.023 Plato Enthusiasmus, Spinoza ein Sehen sub specie aeternitatis, pgo_021.024 Schelling intellectuelle Anschauung, Schopenhauer die Betrachtungsart pgo_021.025 der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes; es ist die pgo_021.026 Anschauung des Denkers, der das ewige Gesetz in der Erscheinung findet, pgo_021.027 die Anschauung des Künstlers, der in der Sinnenwelt die göttliche Jdee

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/43
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/43>, abgerufen am 21.11.2024.